“Und der Jünger nahm sie zu sich... " Zu selten wird der Inhalt dieses kurzen Satzes bedacht. Hinter ihm verbirgt sich eine Aussage von ungeheurer Tragweite, die auch historisch hinreichend abgesichert ist, weil es eben die betroffene Person selbst ist, die diese Aussage macht. Demzufolge verbrachte Maria die letzten Jahre ihres Lebens bei Johannes.
Was man im vierten Evangelium von Maria liest, sei es nun bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa oder unter dem Kreuz, stammt von einem Mann, der mit Maria unter einem Dach gelebt hat, denn niemand kann leugnen, daß “der Jünger, den Jesus liebte" und der Autor des vierten Evangeliums entweder identisch sind oder in ganz enger Beziehung zueinander gestanden haben.
“Und das Wort ist Fleisch geworden" - derjenige, der dies geschrieben hat, hat also mit der Frau, in deren Schoß sich das Wunder vollzogen hatte, im selben Haus gewohnt, oder er hat sie zumindest gekannt und besucht.
Wer kann ermessen, was es für den Jünger, den Jesus liebte, bedeutet haben muß, daß Maria Tag und Nacht in seinem Hause war: mit ihm gemeinsam betete, mit ihm gemeinsam aß, ihm zuhörte, wenn er zu Mitgliedern seiner Gemeinde sprach, und an der Feier des Geheimnisses Christi teilnahm? Ist es vorstellbar, daß Maria im nächsten Umfeld des Jüngers, den Jesus liebte, gelebt haben soll, ohne ihn bei seiner langwierigen Arbeit zu beeinflussen, dem intensiven Nachdenken und den vertiefenden Nachforschungen, die bei der Abfassung des vierten Evangeliums erforderlich waren?
Dieser Tatsache schenken gemeinhin die Gelehrten und Kritiker des vierten Evangeliums und die Forscher, die seine Quellen ergründen wollen, keinerlei Aufmerksamkeit, aber das Geheimnis, das sich dahinter verbirgt, scheint schon in der Antike Origines zumindest geahnt zu haben, wenn er schreibt:
“Das erste der Evangelien ist das des Johannes, dessen tiefen Sinn niemand erfassen kann, der nicht sein Haupt an die Brust Jesu gelehnt und nicht von ihm Maria zur eigenen Mutter erhalten hat. Wer ein zweiter Johannes sein will, der muß an den Punkt gelangen, daß Jesus selbst auf ihn hinweist und von ihm sagt, daß er Jesus ist, so, wie er es von Johannes gesagt hat. Wenn es nämlich außer Jesus keinen anderen Sohn Mariens gibt, und das ist die Meinung all derer, die in der rechten Weise über sie nachdenken, und Jesus dennoch zu seiner Mutter sagt: ,Siehe, dein Sohn' und nicht: ,Siehe, auch dieser ist dein Sohn', dann heißt das: ,Dieser ist Jesus, den du geboren hast'. Denn wer vollkommen ist, der lebt nicht mehr, sondern Christus lebt in ihm (vgl Gal 2,20); und weil Christus in ihm lebt, sagt man, wenn man zu Maria über ihn spricht: ,Siehe, dein Sohn', das heißt Christus."
Dieser Text beweist, daß schon Origenes, basierend auf der Lehre vom mystischen Leib und vom vollkommenen Christen, der ein zweiter Christus ist, die Worte des sterbenden Herrn dahingehend interpretiert, daß sie sich nicht nur auf Johannes beziehen, sondern auf jeden, der Christus nachfolgt.
... Maria im Geiste zu sich zu nehmen, bedeutet also folgendes: Sie zur Lebensgefährtin zu erwählen, die uns mit ihrem Rat zur Seite steht, denn sie weiß besser als wir, was Gott von uns erwartet. Wenn man lernt, in allen Dingen Maria um Rat zu fragen und sie anzuhören, dann wird sie wahrlich für uns eine unvergleichliche Lehrmeisterin der Wege Gottes, die ohne laute Worte in unserem Inneren wirkt.
Das ist keine abstrakte Möglichkeit, sondern eine tatsächliche Realität, heute wie früher von unzähligen Seelen erprobt. Als Beispiel soll ein aus unserer Zeit stammendes Zeugnis von der Erfahrung mit Maria genügen:
“Vor einiger Zeit ist in mir der Wunsch entstanden, Maria in meinem Leben immer größeren Raum zu geben, ja, es gefällt mir, sie dazu einzuladen, ihre Liebe zu Jesus und zur Dreifaltigkeit, ihr Schweigen und ihr Gebet in mir noch einmal zu leben. Mit großem Vertrauen biete ich mich ihr dar als ein konkreter Raum, in den sie sich hinabsenken kann, um noch einmal auf Erden zu leben; ich biete mich ihr dar als die Fortsetzung ihres irdischen Menschseins. Deshalb glaube ich, daß ich zum Raum werden muß, zum Gefäß, das auf Gott wartet, Herz und Verstand fest in Maria verankert."
Man sollte vielleicht hinzufügen, daß ein Leben mit Maria auch in dieser unmißverstandenen Art nicht der einzige, für jeden verpflichtende Weg ist. Derselbe Heilige Geist, der einige Seelen auf diese wunderbare Weise lenkt, kann sich bei anderen auch anderer Mittel bedienen wie zum Beispiel - man denke etwa an die “lectio divina" - der Lektüre der Bibel, des Geschriebenen Gotteswortes.
Es besteht also keine absolute Notwendigkeit, in dieser Art mit Maria zu leben, dennoch aber kann diese Erfahrung für uns nur heilbringend sein. In einigen Fällen kann sie ein ganzes Leben dauern, oft aber dient sie nur über eine gewisse Zeitspanne hinweg dazu, eine Seele zu stärken und zu lenken und sie ein Stück weit zu begleiten, um dann den Weg freizumachen für eine andere Art, mit der Gott dieselbe Seele weiterführen wird.
Auszug aus dem lesenswerten Buch “Maria - ein Spiegel für die Kirche" Von Raniero Cantalamessa, Adamas Verlag, Köln 1994