Eigentlich hätte sie nicht leben sollen, Gianna Jessen, die heute als 23jährige Zeugnis für die Freude am Leben gibt. Ihre Mutter hatte sie abtreiben lassen wollen. Aber der Versuch mißlang...
Manchmal fragen mich die Leute, ob ich wirklich so glücklich bin. Ja, ich bin es, weil ich Jesus kenne. Er hat mich vor dem Tod gerettet, darum bin ich so froh." Giannas Stimme ist ruhig. “Ich wurde abgetrieben, aber ich habe überlebt", sagt sie und lächelt.
Äußerlich unterscheidet sich die 23jährige in keiner Weise von anderen Jugendlichen ihres Alters. Enger, schwarzer, bodenlanger Rock. Unterhalb der Jacke ein olivgrünes Top. Kurzes, rotgefärbtes Haar. “Ich ziehe mich gerne modebewußt an", sagt sie. Beim Gehen humpelt sie ein wenig und bittet beim Stiegensteigen höflich um den Arm dessen, der an ihrer Seite geht. Ihre Lebensgeschichte klingt unglaublich.
April 1977, Kalifornien: Giannas leibliche Mutter, Tina, ist im siebenten Monat schwanger - und verzweifelt. Sie ist arbeitslos, erst 17 Jahre alt und raucht Marihuana. Ihr Freund läßt sie im Stich. Ihre Mutter lebt von der Sozialhilfe, mit der sie Tina und ihre beiden Geschwister durchbringen muß. In dieser für sie ausweglosen Situation sucht Tina Hilfe und wendet sich an eine Beratungsstelle mit Namen “Planned Parenthood". Doch statt der jungen Mutter zu helfen, damit sie trotz der Schwierigkeiten ihr Baby zur Welt bringen kann, rät man ihr, es abzutreiben. In ihrer Lage sei es die beste Lösung, sie hätte keine andere Wahl. Später meint Tina, daß man sie bei “Planned Parenthood" betrogen hätte.
Da die junge Mutter bereits im siebenten Monat schwanger ist, indiziert der Arzt in der Abtreibungsklinik eine Abtreibung durch Salzlösung. Die hochkonzentrierte Kochsalzlösung wird in die Gebärmutter injiziert, wodurch sich der Mutterkuchen von der Gebärmutter ablöst. Dadurch wird die Sauerstoffversorgung des Kindes unterbrochen. Es erstickt im Mutterleib und wird innerhalb von 24 Stunden mit Verbrennungen tot geboren.
“Ich bin 18 Stunden in der Salzlösung gelegen und habe sie geschluckt, aber wie durch ein Wunder überlebt", erzählt Gianna. Alle anderen Mütter - durchwegs im Teenageralter -, die zur Abtreibung gekommen waren, brachten tote Kinder zur Welt. Giannas Geburtsschrei war der einzige, der an diesem Abend im Saal zu hören war.
Die erschrockene Krankenschwester rief spontan die Rettung, da der diensthabende Abtreibungsarzt nicht mehr an der Klinik war. “Später mußte er meine Geburtsurkunde unterschreiben." Gianna grinst. Nein, in Giannas Grinsen liegt keine Spur von Verachtung oder Haß. Es ist vielmehr der Triumph des Lebens über den Tod, den sie mit ihrer ganzen Person ausstrahlt.
“Ich muß die Wahrheit sagen, weil ich an die Wahrheit glaube. Aber ich will sie in Liebe sagen. Das ist der Schlüssel: die Liebe. Bitterkeit würde unser Leben nur auffressen, nicht?", appelliert sie an hunderte Zuhörer, denen sie im September auf Einladung von “Jugend für das Leben" in Wien, Salzburg, Linz und Klagenfurt ihre Geschichte erzählte.
Gianna hatte Glück. Eine liebevolle Pflegefamilie, nahm sich ihrer an - obwohl sie behindert war. Als Folge des Sauerstoffmangels litt das Kind an einer zerebralen Lähmung und Muskelspasmus. Doch ihre Pflegemutter gab nicht auf. “Die Ärzte sagten, ich würde nie meinen Kopf halten, nie sitzen können, nicht krabbeln, geschweige denn gehen können." Dank des unermüdlichen Einsatzes der Menschen rund um sie und vier Operationen geht Gianna heute ohne Gehhilfen und macht sogar Kletterkurse: “Da muß ich mich zwingen, meine Beine zu strecken!"
Die junge Amerikanerin ist eine unermüdliche Kämpferin, aber ohne Verbissenheit. Sie bürdet sich nicht zuviel auf: “Niemand kann den Horror der Abtreibung alleine auf seine Schultern nehmen. Das hat Jesus schon getan, als er das Kreuz für uns getragen hat." Sie bleibt gelassen, innerlich und äußerlich, denn sie weiß, daß nicht alles von ihr abhängt. “Ohne Gott könnte ich gar nichts tun", sagt sie tief überzeugt.
Ob sie Haß oder Enttäuschung empfinde, wenn sie an ihre leibliche Mutter denkt? “Nein, ich bin ihr nicht böse. Ich habe ihr verziehen. Wir haben uns persönlich nie kennengelernt, weil ich glaube, daß das für uns beide so besser ist. Aber meine Adoptivmutter ist zu ihr gegangen und hat ihr gesagt, daß ich ihr vergebe."
Wie kann man vergeben? “Ich glaube, man kann nur durch die Gnade Gottes verzeihen. Und überhaupt: Ist es nicht viel schwieriger, im Alltag eine ständige Haltung des Vergebens in Kleinigkeiten zu üben als jemand zu verzeihen, weil er dich abtreiben wollte?"
Wie kann man Frauen in Not helfen und sie in ihrem Ja zum Kind stärken? Das erste, meint Gianna, ist eine Entscheidung, die man “mit dem Kopf treffen müsse: Abtreibung ist in keinem Fall eine Lösung. Ohne Ausnahme." Sie habe selbst Jugendliche kennengelernt, die ihren Müttern sehr dankbar waren, daß sie sie trotz Vergewaltigung auf die Welt gebracht haben. “Diese Frauen sind Opfer einer schrecklichen Gewalttat geworden. Hätten sie abgetrieben, wären sie Opfer eines weiteren Gewaltaktes geworden", unterstreicht Gianna.
Die Mentalität, daß man Menschen, die nicht “perfekt" sind, weil sie behindert, alt oder krank sind, am besten loswerden soll, hält Gianna für gefährlich: “Wer ist denn schon perfekt? Ich glaube, wir verstehen heute nicht mehr, was Opferbereitschaft heißt. Wie schön es ist, sich für das Leben eines anderen einzusetzen, ihm zu helfen."
In Amerika wenden sich viele Frauen in Not an sogenannte “Crisis Pregnancy Centers". In diesen Krisenzentren - die meisten von ihnen von Christen ins Leben gerufen - steht man den betroffenen Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt bei und erleichtert ihnen den Weg, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Auch Frauen, die eine Abtreibung hinter sich haben, bekommen dort Hilfe.
Wer ist für Gianna, die seit einigen Jahren einer protestantischen Freikirche angehört, ein besonderes Vorbild in Sachen Lebensschutz? Gianna zögert keinen Augenblick: “Mutter Teresa. Diese kleine Frau hatte den Mut, bei ihrem offiziellen Besuch dem amerikanischen Präsidenten klipp und klar zu sagen, warum seine Liberalisierung der Abtreibung die falsche Richtung war. Und sie war zugleich ein Mensch, der sehr viel Liebe und inneren Frieden ausgestrahlt hat. Als sie starb, ist für mich eine Königin gestorben. Sie war arm, aber sie war eine Königin."
Seit sich Gianna für das Recht auf Leben einsetzt, hat sie viel im Umgang mit Menschen dazugelernt. “Man muß sich den Menschen in Liebe nähern", ist ihr Résumee. Zuhören können, bevor man redet, verstehen und Verständnis zeigen. Den anderen zu lieben, heiße aber nicht, von der Wahrheit Abstriche zu machen. “Wenn man die Wahrheit kennt, muß man aufstehen und sie laut sagen."
Daß das nicht immer leicht fällt, weiß Gianna. Vergangenen Juli wurde sie vom Amerikanischen Kongreß zu einem offiziellen Hearing eingeladen, in dem es um das Verbot der sogenannnten “Partial birth abortion" ging. Präsident Clinton war bislang nicht bereit, einer Gesetzesänderung zuzustimmen. “Das war bis jetzt für mich der schwierigste Einsatz. Aber wenn man einmal schon hätte sterben sollen, denkt man sich: Was hat man noch zu verlieren?"
Den Arzt, der sie abgetrieben hat, hat sie niemals kennengelernt. Sie weiß nur, daß er mittlerweile 46 Abtreibungskliniken im Südwesten der Vereinigten Staaten besitzt und immer noch Abtreibungen durchführt.
Ihre Zukunftspläne legt Gianna ganz in die Hände Gottes: “Am liebsten würde ich eine tolle Gesangausbildung machen. Ich singe seit meinem dritten Lebensjahr und schreibe viele meiner Lieder selbst. Demnächst werde ich meine erste CD herausgeben. Und natürlich weiter mein Einsatz für das Leben. Ach, ich habe so viel vor. Hoffentlich bekomme ich alles unter einen Hut. Das Leben ist so kurz, nicht?"
Susanne Kummer