Es gibt in einer technisch beherrschten, durchorganisierten Welt kein größeres Wunder als den betenden Menschen. Wer betet, erlebt nicht nur das Wunder der anderen Welt, er selbst wird zum Wunder in dieser Welt.
Das Geheimnis des Gebetes ist nicht nur wunderbar, es ist auch nicht auszuschöpfen und nicht zu beschreiben. Man kann sich immer nur einen kleinen Teil vom Ganzen anschauen und kommt nicht aus dem Staunen heraus. Ich habe mir zwei schmale Bücher aus dem Regal genommen, aus denen ich Ihnen ein paar Stellen zitieren möchte, die ich mir selbst - schon vor vielen Jahren - mit einem Stift gekennzeichnet habe. Beide stammen bewußt von nicht-katholischen Autoren. Ihre Aussagen möchten deutlich machen, daß das Gebet nicht nur in der katholischen Kirche die Seele, den inspirierenden Grund für ein Leben aus dem Glauben ausmacht und darum ein zentrales Thema darstellt, sondern insbesondere auch im Judentum und in nicht katholischen christlichen Gemeinschaften.
Das erste Büchlein stammt von dem großen jüdischen Rabbiner Abraham Joschuah Heschel. Er wird auch der amerikanische Buber genannt. Sein Büchlein trägt den Titel: “Der Mensch fragt nach Gott" (Neukirchener Verlag). Dieses Büchlein zählt für mich zum Schönsten, Tiefsten und Wertvollsten, was ich zum Thema Gebet je gelesen habe.
Heschel schreibt: “Beten heißt, Gott in die Welt zurückzubringen, sein Königtum aufzurichten, seinen Ruhm herrschen zu lassen... Groß ist die Kraft des Gebetes. Denn Gott anbeten heißt, Seine Gegenwart in der Welt ausbreiten. Gott ist transzendent, unsere Anbetung aber macht Ihn immanent..."
Und genau darum geht es im Gebet: daß der verborgene, unbegreifliche, alles übersteigende (= transzendente) Gott in unserer oft so begrenzten und abgekapselten Welt sichtbar wird, greifbar, spürbar, heilwirkend, eben immanent. Der Mensch, der betet, wird Zeuge und Träger dieser Immanenz. Ihm öffnet sich der Himmel auf Erden. Er erlebt das Wunder der anderen Welt.
“Wir leben am Rande des Mysteriums", schreibt Heschel ferner, “und wollen es nicht wahrhaben. Wir verlieren unsere Seele und gefährden unseren Anteil an der Welt Gottes... Gebet ist unsere Bindung an das Allerhöchste. Haben wir Gott nicht im Blick, gleichen wir verstreuten Sprossen einer zerbrochenen Leiter. Beten heißt: zur Leiter werden, auf der Gedanken zu Gott aufsteigen. So schließen wir uns der Bewegung an, die unmerklich überall im ganzen Weltall zu Ihm aufbricht."
Es gibt nichts, was mich als Priester mit mehr Staunen und Ehrfurcht erfüllte, als wenn ich bei Menschen dem Wunder des Gebetes begegnen darf. Es war mir bisher als Seelsorger auch nichts wichtiger, als die Menschen immer wieder auf die Not-wendigkeit, auf den Segen und das Wunder des Gebetes aufmerksam zu machen, besonders die jungen Menschen.
Und wie oft durfte ich diesem Wunder des Gebetes begegnen! Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der das Wunder des Gebetes in seinem Leben nicht erfahren hätte, wenn er mit dem Beten begonnen und darin nicht nachgelassen hat.
Wer anfängt zu beten (auch wenn er es rational nicht verstehen kann), erfährt das Wunder der Immanenz: die heilende, die tröstende, die zusprechende, die verändernde Anwesenheit des Ewigen, die den Menschen von innen her verändert und sich nach außen verströmt auf seine Umgebung.
Ich kann es aus einer über 20jährigen Seelsorgeerfahrung heraus bestätigen und bezeugen: Es gibt keine Situation im Leben eines Menschen: kein Scheitern, keine Verzweiflung, keine Sucht, keine Abhängigkeit, keine Angst, keine Krankheit, die sich der heilenden Wirkung des Gebetes entziehen könnte und medizinische und psychiatrische Betreuung und Begleitung nicht unterstützte.
Menschen, die anfangen zu beten und darin nicht nachlasen, sind wie Speicheröfen, die sich aufwärmen und ihre Wärme, ihre Hoffnung, ihre Liebe und ihre inspirierenden Funken an ihre Umgebung abgeben. Oder um nochmals mit Heschel zu sprechen: “In der Welt des Mikrokosmos ist der Strom des Gebetes wie der Golfstrom. Allem Kalten verleiht er Wärme. Er schmilzt alles, was hart ist in unserem Leben... Neid und Furcht, Verzweiflung und Verdruß, Gram und Schmerz, die schwer uns auf dem Herzen lasten, werden von seinem Licht wie Schatten zerstreut."
Wo immer diese “Immanenz Gottes" ersehnt, gesucht, erfahren werden will: im eigenen Leben, in der Familie, in der Gemeinschaft, in der Pfarrei und Gemeinde, dort sollen wir einfach zu beten anfangen. Es ist kein Zufall, daß alle großen Gestalten des Christentums und anderer Religionen betende Menschen waren und sind.
Als man Mutter Teresa einmal fragte: “Woher beziehen sie die enorme Kraft für ihr gewaltiges Werk?", gab sie zur Antwort: “Mein Geheimnis ist ganz einfach: Ich bete." So würden wahrscheinlich alle anderen antworten, die in dieser Welt zu Zeugen der Immanenz Gottes geworden sind. Ob sie Juden, Christen, Hindus oder Moslems waren. Mahatma Gandhi sagte von sich: “Gebet hat mein Leben gerettet. Ohne das Gebet wäre ich schon lange dem Wahnsinn verfallen."
Es ist nicht verwunderlich, daß überall dort, wo Gott durch Seine Mutter in unserer Welt immanent wird - ich meine dort, wo sie erscheint (in Lourdes, Fatima, Medjugorje...), -, daß sie überall zum Gebet aufruft und zur Gründung von Gebetesgruppen. Vom Gebet hängt tatsächlich alles ab: ob unsere Welt wieder am Himmel festgemacht wird oder ob sie davonschwimmt, “fort von allen Sonnen" (Nietzsche).
Vielleicht kennen einige der Leser das bekannte Buch von Frank C. Laubach, der als evangelischer Prediger Millionen von Menschen zum Gebet inspiriert hat. Es trägt den Titel: “Die stärkste Kraft der Welt - das Gebet" (Oesch-Verlag). Ich möchte daraus ein paar Abschnitte zitieren, die für die Neuevangelisierung so grundlegend wichtig sind. Sie betreffen vor allem das Gebet im und um den Gottesdienst. Gerade wir Priester und Seelsorger können die Menschen nicht eindringlich genug um das Gebet aller bitten, wie Laubach es hier tut.
Die Leser mögen bitte beachten, daß Laubauch hier vom evangelischen Wortgottesdienst ausgeht. Dennoch will sein Appell in seiner ganzen Eindringlichkeit ernstgenommen werden. Denn ob die sakramentale Strahlkraft eines katholischen Gottesdienst den Menschen erreicht, hängt wesentlich von der “wegbreitenden Macht" des Gebetes ab, das heißt: ob wir betende Menschen sind. Laubach schreibt:
* Die Christenheit ist verloren, wenn sie nicht entdeckt, daß der Mittelpunkt und die Kraft eines Gottesdienstes das Gebet ist, nicht die Predigt; Gott, nicht der Prediger. Das bedeutet, daß Pfarrer und Gemeinde mehr Zeit verwenden müssen, um sich zu Hause im Gebet auf den Gottesdienst vorzubereiten.
* Der Gottesdienst braucht das Gebet als erhabenen Höhepunkt. Das ist nur möglich, wenn Pfarrer und Volk davon überzeugt sind, daß jedes aus dem Herzen kommende Gebet die Geschichte sofort zu verändern beginnt.
* Die meisten Fürbittgebete, die man in der Kirche hört, sind tragische Fehlschläge, sind dürftig, verschwommen, zaghaft, kraftlos, armselig. Die Menschen beten selten im Bewußtsein, daß das Gebet die Welt verändert.
* Ein kleine Gruppe betender Menschen braucht nicht auf die Einladung des Pfarrers oder der übrigen Gemeinde zu warten. Sie können sich selbst zu einer Gebetsgruppe zusammentun. Und wenn sie lange genug und ernstlich genug ausharren, dann werden sie eine Kirche in Brand setzen. Die einfachste Art, eine Kirche ins Leben zurückzurufen, ist ein innerer Gebetskreis.
* Sogar eine Person, die als einzige in einer Kirche betet, kann viel für die Erhöhung der geistigen Temperatur tun... Schließen wir unsere Augen und versuchen wir, die geistige Temperatur zu steigern, indem wir für eine Kirchenbank nach der anderen kräftig beten. Wir stellen uns vor, Christus steige aus der Höhe zu den Menschen herunter oder gehe mit schmerzlicher Sehnsucht durch das Seitenschiff, indem er einen nach dem anderen berührt. Es ist schwer, die weltliche Atmosphäre mancher Kirchen zu bekämpfen. Aber die Anstrengung ist unendlich lohnend. Die eigene Seele fängt Feuer.
Ich möchte Sie, liebe Leser, ermutigen: Tun Sie die Schritte, die Ihnen als betender Mensch möglich sind! Aus eigener und vielfacher Seelsorgeerfahrung darf ich Ihnen sagen: Sie werden Wunder erleben, nicht nur im persönlichen, sondern auch im Leben der Pfarrei und Gemeinde.
Es werden Menschen den Zugang zum Gottesdienst finden, die ihm Jahre, vielleicht Jahrzehnte lang ferngestanden sind. Die Menschen werden wieder glauben können und den Anschluß an Gott finden. Und sie dürfen auf diese, vielleicht verborgene Weise zur Neuevangelisierung der Welt beitragen, zu der die Kirche so eindringlich ermahnt. Beten ist das Privileg aller Menschen, ob sie gesund sind oder krank, jung oder alt. Und gerade die alten und kranken Menschen können im Gebet eine neue und göttliche Berufung und Aufgabe finden. Und sie finden auch einen wunderbaren und Wunder wirkenden Sinn in ihrem Leben.
Lasset uns beten!
Der Autor ist Priester und wohnt in 6260 Reiden, Schweiz.