Es gibt eine Stunde, die meinen Tag bestimmt; denn nach ihr wird alles andere eingeteilt und geplant. Sie ist keineswegs immer mit derselben Uhrzeit verknüpft, aber dennoch ein Fixpunkt, der nie fehlt. Ich nenne sie die “Modellier-Stunde Gottes".
Begonnen hat alles eigentlich mit einer Sehnsucht: der Sehnsucht, auch außerhalb der Heiligen Messe jeden Tag noch ein bißchen Zeit mit dem Herrn zu verbringen - eine Zeit nur für Ihn: ohne das Beten des Rosenkranzes, ohne geistliche Lektüre, ohne konkrete Vorsätze oder ein bestimmtes “Programm". Stattdessen einfach nur bei Ihm sein in Seiner eucharistischen Gegenwart.
Diese tägliche “heilige Stunde" ist nicht einfach einer frommen Vorstellung entnommen, noch ist sie gar als eine Art Geschenk für den Herrn gedacht, sondern umgekehrt: Jede Zeit vor dem Allerheiligsten ist Sein Geschenk an uns, eine Zeit der Heilung, des Zur-Ruhe-Kommens und der Erkenntnis; denn wenn wir vor der Eucharistie verweilen, ist das so, als ob wir unseren Körper der Sonne aussetzen und ihre Strahlen in uns aufnehmen. Es ist eine Zeit der Verwandlung: nicht mehr ich muß etwas tun, sondern der Herr tut. Er handelt, Er löst die Probleme, Er beschenkt.
Die heilige Stunde ist für mich daher keine Stunde der Aktivität, sondern eine Stunde des Fiat: “Ja, Herr, es geschehe etwas an mir - und nicht durch mich!" Es geht nicht um ein: “Höre, Herr, dein Diener redet!", sondern um ein: “Rede, Herr, dein Diener hört!" Und weil dabei Er alles tut und ich nichts, nenne ich sie eben die “Modellier-Stunde Gottes"; denn es sind die Augenblicke, in denen Er Sein Abbild einprägen will in uns - so wie der Töpfer sein Siegel einprägt in den noch weichen, unfertigen Ton.
Es ist keine Stunde der großen Gefühle, sondern mehr eine Antwort auf die stille Bitte des Herrn: zu vertrauen, daß diese Zeit nicht verloren ist und nicht durch andere, mehr äußerliche Dinge viel besser genützt werden könnte. Werden wir Ihm glauben?
Es ist auch eine Zeit der Verheißung; denn so wie unser Gesicht golden aufleuchtet, wenn wir in die untergehende Sonne schauen, wird auch unser Herz auf geheimnisvolle Weise angerührt und verwandelt, wenn wir auf den eucharistischen Herrn schauen. Das lehrt uns das Beispiel vieler Heiliger, das zeigt uns auch die Schrift: das Antlitz des Mose war verklärt, nachdem er Gott auf dem Sinai begegnen durfte (Gen 34,29).
Manchmal freilich ist das alles nicht so einfach, wie es klingt. Es gibt Tage, an denen man dem Herrn nichts anderes bringen kann als nur Zerstreutsein, Müdigkeit und Sorgen. Tage, an denen man beim Beugen der Knie nur einen einzigen Satz zustandebringt: “Herr, erbarme dich!" Manchmal wird die heilige Stunde zur letzten Chance, gerade noch den Kopf über Wasser zu behalten, wenn man im geistlichen Kampf fast zu ertrinken droht. Oder sie wird zu einer einzigen Versuchung zum Aufgeben: wenn sie wirklich nur als “verlorene Zeit" erscheint, weil man nicht ins Innere vordringen kann... Und dennoch: Wenigstens ist man da gewesen, wenigstens hat man angeklopft.
Die tägliche heilige Stunde führt uns hinein in die geschöpfliche Armut, in die Nacktheit vor Gott, in die Gebrochenheit der menschlichen Existenz. Und das ist gut so; denn nur aus dieser Armut heraus kann jener Reichtum entstehen, der nicht mehr von den Menschen kommt, sondern den der Herr selbst in uns säen will. Und nur in dieser Kraft der Schwachheit kann allmählich jene Liebe wachsen, die - wenn Er sie einst vollendet - stärker ist als alles andere: stärker als die Sünde, stärker auch als der Tod.
Ist es schwer, die heilige Stunde zu halten? Ja, es ist schwer; denn wir treten zwar ein in Seine Liebe, aber wir gehen gleichzeitig auch ein in die völlige Schutzlosigkeit vor Gott. Wir gleichen gewissermaßen einem Aussätzigen, der zwar zum Arzt geht, um sich helfen zu lassen, der aber seine schmutzigen Fetzen nicht hergeben will, sobald dieser sie zu entfernen sucht: so groß, so tief, so brennend ist die Scham, entblößt zu werden von Ihm, der die Reinheit ist. Schon Petrus ist Christus zu Füßen gefallen mit dem Ruf: “Herr, geh weg von mir, ich bin ein Sünder!" (Lk 5,8)
Doch die einzige sanfte, aber unerbittliche Antwort, während der Herr uns weiter Schicht für Schicht unser selbst entblößt, wird sein: “Hab Vertrauen! Hab Vertrauen, du bist Mein Werk!" Und dann sind wir gerufen, still zu halten unter dieser Hand, die uns als einzige die Heilung schenken kann. Nur diesen einen Schutz gibt es vor Gottes Größe: den, völlig schutzlos zu sein!
Ist es schwer, die heilige Stunde zu halten? Ja, es ist schwer; denn wir kommen fast immer mit den vielen Masken unseres Lebens - und treffen dort auf einen Spiegel, der sich nichts vormachen läßt, sondern alles abbildet: Gutes wie Schlechtes, Stärke wie Schwäche, Helligkeit wie dunkle Schatten. Und so kann es vorkommen, daß man - salopp gesagt - vielleicht “recht gut drauf" ist, wenn man die heilige Stunde beginnt, aber in Tränen der Reue, wenn man sie beendet - und gut vorbereitet auf eine umfassende Beichte! Denn der Herr ist nicht so grausam, uns die in langen Jahren gewachsenen Masken einfach so vom Gesicht zu reißen, sondern Er schenkt uns die Möglichkeit, sie behutsam eine nach der anderen vor Ihm abzunehmen und verwandeln zu lassen in Licht.
Ist es also schwer, die heilige Stunde zu halten? Ja, oft ist es schwer; denn wir leben in einer Welt, die uns viel abverlangt, und die Müdigkeit mag uns oft übermannen.
Manchmal muß die Zeit der Stille, wenn andere Verpflichtungen sich häufen, daher sehr bewußt eingeplant werden: etwa indem man eine Stunde früher aufsteht oder auf ein anderes Ereignis oder eine Begegnung verzichtet. Auch wird es immer wieder die Versuchung geben, die Modellier-Stunde Gottes zwischendurch einfach ausfallen zu lassen - z.B. wenn eine Vortragsreise ansteht und die Nacht ohnehin kurz war, die Fahrt hingegen lang sein wird und es nur eine einzige Möglichkeit gibt, die Zeit mit dem Herrn noch unterzubringen: in den sehr frühen Morgenstunden... “Bruder Esel" kann da schon kräftig protestieren, wenn der Wecker unerbittlich klingelt. Dennoch dürfen wir darauf vertrauen, daß wir aus der Begegnung (so verschlafen wir sie vielleicht verbracht haben!) gestärkt hervorgehen werden: denn sie ist wie ein Sauerstoffzelt des Heiligen Geistes, in dem wir unsere Lungen noch einmal ganz anfüllen dürfen, bevor wir den Rest des Tages dann den Stickstoff dieser Welt einatmen.
Manchmal ist es aber auch schwierig, die Stunde zu einer Tageszeit zu begehen, in der irgendwo eine Kirche offen ist. Da unser Herr auch viel Humor hat, kann das vor allem an den Abenden geradezu gefährlich werden: dann etwa, wenn der Pfarrer oder der Mesner nicht merken, daß noch jemand vor dem Tabernakel ist, und denjenigen aus Versehen in der Kirche einsperren - etwa an einem Weihnachtsabend in einer abgelegenen Wallfahrtskirche (und zwar zu einer Zeit, da keineswegs schon jeder ein Handy in der Tasche hatte, um notfalls mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen!). Oder - noch delikater - in einem deutschen Wallfahrtsort, in dem die Eingesperrte am nächsten Morgen um acht einen Vortrag halten, die Sakramentenkapelle laut Aushang aber erst um zehn Uhr wieder aufgesperrt werden sollte...
Ist es also schwer, die heilige Stunde zu halten? Nein, das ist es nicht, wenn wir es nur wagen, an die Kraft der Eucharistie zu glauben! Vielen fällt das schwer, und das war schon damals so, als der Herr dieses Wunder im Evangelium ankündigte. Zuerst verlor Er die Massen; denn als sie begriffen, daß Er mit dem “Brot des Lebens" nicht das materielle Wohl gemeint hatte, folgten sie Ihm nicht länger nach (Joh 6). Danach verlor er einige Seiner Jünger: ihnen schien zu “unerträglich", was Er sagte, und sie “zogen sich zurück und wanderten nicht mehr mit Ihm umher" (Joh 6,60-66). Und als drittes spaltete die Ankündigung der Eucharistie sogar die apostolische Gruppe selbst, weil sich Judas bereits hier als der zukünftige Verräter abzeichnete und Jesus genau wußte (und auch verschleiert ankündigte), wer es sei, der Ihn verraten würde (Joh 6,64 + 6,71).
Weder theologisches Wissen allein, noch tätiger Glaube allein reichen also aus, um inmitten der “Sorgen dieser Welt" (Mt 13,22) das Feuer der Gottesliebe in uns lebendig und am Brennen zu halten. Viele Dinge über Christus zu wissen und viel über Ihn erzählen zu können, ist eine gute Sache. Aber wie sollen wir über Ihn sprechen, ohne Ihn wirklich zu kennen? Und wie sollten wir Ihn kennenlernen, ohne mit Ihm Zeit zu verbringen? Wie aber könnten wir, nachdem wir Zeit mit Ihm verbracht haben, nicht dahin gelangen, Ihn zu lieben? Theologische Erkenntnisse erwachsen nie allein aus dem Studium der heiligen Schriften, sondern immer auch aus dem Sich-Hinknien vor einen Tabernakel!
Wenn wir irgend etwas tun wollen für die Verchristlichung dieser Welt und ihr Hinfinden zum Vater, dann tun wir es durch unser Vertrauen in die Eucharistie (sei es real in Seiner Gegenwart; sei es, daß wir nur im Geiste vor Ihm verweilen können)! Denn nur sie ist das Feuer, das unser aller Lauheit und Müdigkeit, Armut und Zerbrochenheit immer wieder neu entzünden kann - so wie auch der Dornbusch des Mose im Feuer Gottes immerzu brannte, ohne sich zu verzehren. Wir müssen in dieser Welt die Liebe bewahren, wenn wir Seine Jünger sein wollen; denn nur die Liebe ist es, die zum Leben führt!