Gewissenserforschung: Für viele heutzutage ein großes Problem. Soll man einen Beichtspiegel zu Rate ziehen? Oder sich lieber die Frage stellen, wie man sich Gott, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber verhalten hat?
Vielfach setzt man heute Gewissenserforschung und Anlegen eines Sündenregisters gleich. In letzter Konsequenz füllt man dann einen Fragebogen aus wie beim Zoll: Was führen Sie mit? Kreuzen Sie an!
Tatsächlich aber wird eine Liste - und sei sie noch so gut - immer nur ein Instrument sein. Sie kann nie das persönliche Gebet ersetzen, die aufrichtige Anfrage, die mich mit mir und meiner Sünde - und vor allem selbstverständlich mit Gott und Seinem Anruf konfrontiert. Sie kann mich zu einem Zwiegespräch mit dem Herrn führen, es aber nie ersetzen. Mein Gewissen zu erforschen, kann sich nicht darauf beschränken, ein Blatt Papier auszufüllen.
Zugegebenermaßen ist sogar der Ausdruck “Gewissenserforschung" nicht ganz geglückt. Ich weiß zwar, daß er seit langem üblich und daher legitim ist. Und er hebt etwas Wahres hervor: Meine Treue oder Untreue zum Herrn ist eine Frage des Gewissens. Das spielt sich in meinem Inneren ab. Andererseits besteht die Gefahr, daß man sich auf sich selbst konzentriert, um Sünden und schlechtes Gewissen auszumachen. So wird die Umkehr zu einem Bemühen um Klarheit und persönlicher Entfaltung. All das ist dann eher psychologisch als spirituell, eher moralisierend als dem Evangelium gemäß.
Müßte man nicht eher von Rückschau auf das eigene Leben sprechen? Dieser Ausdruck (“Révision de vie") kommt aus der Katholischen Aktion. Sie bezeichnet ein besondere Pädagogik mit dem berühmte Dreischritt: “Sehen, urteilen, handeln". Sie drückt damit etwas aus, was alle Gläubigen angeht: Es geht darum, das Evangelium ins Leben umzusetzen. Schließlich haben wir doch in unserem Leben den Anruf Gottes zu erkennen und auf ihn zu antworten. Dort also müssen wir nach unserer Sünde suchen. Konkret heißt das: Es genügt, einen Rückblick auf die Orte und Zeiten unseres Lebens im Lauf der Tage zu werfen, und sie vor den Blick Gottes zu stellen.
Für eine Reihe von Christen war das eine kostbare Einsicht, ein Fortschritt im geistlichen Leben. Dennoch ist auch da das Risiko eines moralisierenden Zugangs nicht ganz ausgeschlossen. Dann wechselt man von einem eher persönlichen Moralisieren zu einem mehr gesellschaftlichen, ja politischen. Aber man bewegt sich immer noch auf der Ebene der Moral.
Im Grunde genommen gehe ich, was meine Sünde betrifft wie auch in allem anderen, in die Schule Christi. Dann gibt mir die Offenbarung die wahre Erleuchtung. “In deinem Licht schauen wir das Licht", heißt es im Psalm. Mein Gewissen, mein Leben zu erforschen, wird mich nie davon dispensieren, das Wort Gottes zu erforschen. Im Licht des Evangeliums kann ich dann Klarheit über mich gewinnen und neu in meiner Geschichte lesen. Diese geistige Übung heißt Unterscheidung. Dabei läßt sich der Jünger belehren, da läßt sich der Sünder bekehren, so wächst der Heilige.
Fragebogen, Formeln, unterschiedliche Meditationen können hilfreich sein. Man kann sie gebrauchen, sowohl für einen persönlichen Akt wie für einen in Gemeinschaft. Ich würde jedoch immer das vorziehen, was mich zum Hören auf den Herrn führt, auf ein unmittelbares und tiefreichendes Hinhören.
Aus dieser Sicht gibt es einige grundlegende Texte, auf die man immer wieder zurückkommen kann: die Zehn Gebote (der Weltkatechismus kommentiert sie erschöpfend), die Seligpreisungen, das Vater Unser... Sie Punkt für Punkt durchzugehen, stellt einen vor sein Gewissen, vor sein Leben, vor allem aber vor das Antlitz Gottes.
Man kann einfach auch von einer Schriftlesung ausgehen: die Tageslesung, die Texte vom Sonntag, eine Stelle, die mich eben anspricht. Amos erzählt mir von den Armen, Ezechiel von den getrockneten Skeletten, Salomon von der Weisheit, Paulus von der Einheit, Johannes von der brüderlichen Liebe, Petrus vom Glauben... Jedesmal ist es der Heilige Geist, der da zu mir spricht, mich infragestellt.
Nicht zufällig umfaßt das überarbeitete Ritual des Sakramentes der Versöhnung auch ein Schriftlesung, selbst im Falle der Einzelbeichte. Als Beichtvater, aber auch als Beichtender mache ich die Erfahrung, daß uns dies keineswegs vertraut ist, leider. Dennoch ist es äußerst sinnvoll. Diese Schriftlesung kann ganz einfach und kurz sein: ein Vers, den man auswendig zitiert, ein Text, auf den man sich bezieht, einige Zeilen, die man liest...
Alain Bandelier
Aus “Famille Chrétienne" vom 3. März 2001