VISION 20004/2001
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Sich persönlich von Gott geliebt fühlen

Artikel drucken Die Erfahrung des Heiligen Geistes - eine Erfahrung der Liebe Gottes (Raniero Cantalamessa)

Wenn der Heilige Geist nichts anderes ist als die Liebe Gottes, die “caritas", dann kann der Satz aus der Apostelgeschichte: “Alle waren erfüllt vom Heiligen Geist", nur bedeuten: “Alle waren erfüllt von der Liebe Gottes!"

In diesem Licht erscheint uns der Heilige Geist wirklich als das “Siegel", das dem ganzen Schöpfungs- und Erlösungswerk aufgedrückt ist (vgl Eph 1,13), und Pfingsten als die Krönung aller Werke Gottes.

Warum hat Gott die Welt erschaffen? Warum hat er seinen Sohn gesandt, sie von der Sünde zu erlösen? Zu keinem anderen Zweck, als seine Geschöpfe mit Liebe und Segen zu erfüllen und sie mit dem Glanz seines Lichtes zu erfreuen. Wozu hat Gott uns die Schrift gegeben, wenn nicht, um uns darauf vorzubereiten, seine Liebe zu empfangen?

Pfingsten war jedoch nicht nur objektives Ereignis, eine tiefgreifende, aber nicht wahrgenommene und unbewußte Veränderung; es war ein auch subjektives Ereignis, eine Erfahrung. Der Übergang vom furchterfüllten Herzen des Knechtes zum von Liebe erfüllten Herzen des Sohnes vollzog sich nicht, ohne daß er gespürt wurde, unter Vollnarkose, wie die Herzverpflanzungen geschehen! Im Gegenteil, die Apostel machten eine überwältigende Erfahrung der Liebe Gottes: von Gott geliebt zu sein und Gott zu lieben. Sie wurden buchstäblich getauft in der Liebe.

Das war es, was sie außer sich geraten ließ, so daß sie für Außenstehende wie vom süßen Wein betrunken erschienen. Die schlagartige Veränderung der Apostel ist nicht anders zu erklären als durch ein plötzliches Auflodern des Feuers der göttlichen Liebe in ihnen. Dinge, wie sie sie bei dieser Gelegenheit taten, können nur durch die Liebe veranlaßt werden.

Die Apostel, später die Märtyrer, waren tatsächlich "betrunken", geben die Väter ruhigen Herzens zu, aber “betrunken von der Liebe, die ihnen vom Finger Gottes zukam, der der Heilige Geist ist." (Augustinus) Betrunken, denn “ihr Durst war gestillt am Strom der göttlichen Wonnen; trunken von jener nüchternen Trunkenheit, die die Sünden tötet und das Herz belebt." (Cyrill von Jerusalem)

Diese Tatsache - daß nämlich die Ankunft des Heiligen Geistes sich auf subjektiver Ebene in eine Erfahrung von Liebe umsetzt - bestätigt sich jedesmal, wenn sich ein “neues Pfingsten" ereignet. Die Personen, die an dem Besinnungstag teilnahmen, aus dem dann die Bewegung der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche hervorging, bekannten später, es habe einen Moment gegeben, in dem sie Angst hatten, “der übermäßigen Liebe Gottes nicht standhalten zu können", von der sie sich bei dieser Gelegenheit überflutet fühlten.

Tatsächlich sagten sie: “Es war, als sei der Gott vom Sinai in den Raum eingetreten, wo wir uns befanden, und habe ihn und uns völlig erfüllt."

Viele Male habe ich es später selbst feststellen können: Jedesmal, wenn jemand eine wirkliche und starke Erfahrung des Geistes macht, ist die lebendigste Erinnerung, die der Betreffende von diesem Moment behält, die eines intensiven Wahrnehmens der Liebe des Vaters. Eines dieser Zeugnisse lautete:

“Am folgenden Tag verlor sich dieses Gefühl, nicht geliebt zu sein, das mich das ganze Leben hindurch begleitet hatte. Ich fühlte mich wie eingetaucht in ein neues Empfinden der Liebe Gottes, das mich von jenem Tag an nicht mehr verlassen hat."

Es ist der schönste Moment im Leben eines Geschöpfes: sich persönlich von Gott geliebt zu fühlen, sich wie ins Herz der Trinität versetzt zu fühlen und sich mitten im Wirbel der Liebe zu befinden, der zwischen dem Vater und dem Sohn hin- und herströmt, in ihn einbezogen, teilhaft an ihrer Leidenschaft der Liebe für die Welt. Und all das in einem Augenblick, ohne daß es der Worte oder irgendeiner Reflexion bedarf.

Aber wozu dieses Beharren auf dem Empfinden? Ist es denn eigentlich notwendig, die Erfahrung der Liebe Gottes zu machen? Genügt es nicht, und ist es nicht sogar verdienstvoller, ihn im Glauben zu bewahren? Wenn es sich um die Liebe Gottes handelt, ist das Empfinden selbst schon Gnade; es ist nämlich nicht die Natur, die uns ein solches Sehnen einflößen kann.

Auch wenn es nicht von uns abhängt, ein solches Empfinden ständig zu bewahren, ist es gut, es zu suchen und zu ersehnen. “Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen" (1Joh 4,16): nicht nur gläubig angenommen, sondern auch erkannt, und wir wissen, daß für die Bibel “erkennen" auch erfahren bedeutet.

Wenn darin konkret das Pfingsten besteht - in einer lebendigen und verwandelnden Erfahrung der Liebe Gottes -, warum ist dann diese Erfahrung der Mehrheit der Gläubigen noch unbekannt? Wie kann man sie ermöglichen?

Vielleicht erbitten und ersehnen Sie das seit langem, und es trifft nicht ein. Dann schlage ich Ihnen ein untrügliches Mittel vor. Diese Liebe Gottes, die vom Heiligen Geist in unsere Herzen eingegossen ist, hat zwei Seiten: Sie ist gleichzeitig die Liebe, mit der Gott uns liebt, und die Liebe, mit der er erreicht, daß wir ihn und den Nächsten lieben können.

In der Bibel finden wir einmal die erste Bedeutung mehr hervorgehoben, besonders bei Johannes (vgl. Joh 4,10), ein andermal mehr die zweite, wie im Hohenlied der Liebe von Paulus (vgl. 1Kor 13). Ebenso ist es in der Tradition. Augustinus gibt der aktiven Bedeutung den Vorrang: die eingegossene Liebe ist die neue Fähigkeit, die uns gegeben wird, Gott und den Nächsten zu lieben; Thomas von Aquin hält richtigerweise die beiden Aspekte untereinander verbunden.

Aber es handelt sich um zwei Seiten derselben Liebe, nicht um zwei Lieben. Wie in der Tritinität die Liebe des Vaters auf den Sohn übergeht, aber nicht in ihm endet und sich nicht aufhält, sondern sich über ihn auf den Geist erstreckt, so geschieht es auch außerhalb der Trinität. Die Liebe Gottes dringt in uns ein, aber endet nicht in uns; sie kommt, geht durch uns hindurch, bezieht uns in ihre Bewegung ein und drängt uns, unsererseits mit der gleichen Liebe zu lieben, mit der er uns liebt: “Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben" (1Joh 4,11).

Die Liebe Gottes schafft die Ekstase, das Aus-sich-Herausgehen. Beim ersten Abschnitt innezuhalten, nur Empfänger der Liebe Gottes zu sein und nicht auch ihr Wiederholer, ihr Kanal, das wäre, als wolle man den Lauf eines Flusses anhalten: Er würde zu Sumpf und Morast. Wie der Regen vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, ohne zuerst die Erde getränkt und sie zum Keimen und Sprossen gebracht zu haben (vgl Jes 55,10f), so darf die Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen wurde, nicht zu ihm zurückkehren, ohne vorher das vollbracht zu haben, wofür Gott sie ausgegossen hat, und ohne ihre Frucht gebracht zu haben.

Ich habe so sehr auf diesem Punkt bestanden, weil gerade darin das untrügliche Mittel besteht, von dem ich sprach, um eine pfingstliche Erfahrung zu machen von der Liebe Gottes zu uns. In der Taufe ist uns ein neues Herz gegeben worden. Vielleicht ist dieses neue Herz wie verkümmert geblieben - aus Mangel an Übung. Es sollte eine “sprudelnde Quelle" sein und ist statt dessen ein “versiegelter Brunnen" geblieben. Wir müssen es entsiegeln, es in Bewegung bringen.

Wenn aus irgendeinem Grund der Herzschlag eines Menschen aufhört, versucht man, ihn zu reanimieren, indem man das Herz massiert, bis es wieder von selbst schlägt, aus spontanem, natürlichem Impuls. Wir haben es nötig, etwas ähnliches durchzumachen: eine Art Massage oder künstliche Beatmung.

Und es geschieht, indem wir uns daran machen zu lieben, auch rein willensmäßig, ohne den gefühlsmäßigen Impuls. Alle zu lieben, die Nahen, die Fernen, diejenigen, die uns lieben, und noch mehr die, die uns nicht lieben. Niemand sollte meinen, die Liebe Gottes zu kennen, die “in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist" (vgl Röm 5,5), wenn es ihm nicht dazu verholfen hat, wenigstens einmal eine Beleidigung zu verzeihen, einen Feind zu lieben, sich mit einem Bruder zu versöhnen.

Wir müssen die Witwe von Sarepta nachahmen. Zu ihr kommt der Prophet Elija ins Haus und bittet sie um Wasser und ein bißchen Brot. Sie antwortet, daß alles, was sie hat, eine Handvoll Mehl ist und ein paar Tropfen Öl, und daß sie das gerade für sich und ihren Sohn zubereiten wollte, um dann zu sterben. Aber der Prophet drängt: aus allem, was sie hat, solle sie zuerst ein Fladenbrot für ihn backen, und danach werde sie davon für sich und den Sohn etwas bereiten.

Mußte das nicht als eine unmäßige Bitte erscheinen? Die Witwe leidet selbst äußersten Mangel an etwas Eßbarem, und Gott verlangt von ihr, auch das herzugeben, was sie hat. Aber wir wissen, wie es weitergeht: Das Mehl im Topf und das Öl im Krug vermehren sich für sie und für den Sohn, ohne weniger zu werden, und je öfter sie davon nimmt, desto mehr findet sie vor (vgl. 1Kön 17,7-16).

Dasselbe tut Gott mit uns. Wir erbitten von Gott als Almosen ein wenig seiner Liebe, und er verlangt von uns, daß zuerst wir ihm und dem Nächsten all unser bißchen Liebe geben sollen, das wir haben, daß wir das Gefäß restlos ausleeren sollen: “Gebt, dann wird euch gegeben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden" (Lk 6,38).

Es geht nicht darum, Gott zuvorzukommen, so daß er uns den Gegendienst erweisen müßte, und ebensowenig darum, sich die Liebe Gottes zu verdienen, sondern es geht darum, ihr zu ermöglichen, sich in uns zu ergießen. Jedesmal, wenn wir lieben, hat er uns zuerst geliebt, und auch die Tatsache, daß wir jemanden lieben, ist ein Zeichen dafür, daß er uns liebt.

Auszug aus "Komm, Schöpfer Geist", Herder, Freiburg 1999

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