Viele meinen, das Leben der Christen sei die mühsame Verwirklichung eines Programms, das den Menschen die Latte zu hoch legt. Diese falsche Sichtweise widerlegt der Autor im folgenden.
Allgemein pflegt man sich der Illusion hinzugeben, daß die Heiligung das Werk des Menschen sei: Es gehe hierbei darum, ein klar umrissenes Programm zur Erlangung der Vollkommenheit zu besitzen und sich mit Mut und Geduld ans Werk zu begeben, um dieses Programm nach und nach zu verwirklichen. Das sei alles.
Unglücklicherweise (oder vielmehr glücklicherweise) ist das keineswegs alles... Daß aber die Heiligkeit die Verwirklichung eines Lebensprogrammes ist, welches wir selbst uns festsetzen, das trifft mit Sicherheit nicht zu, und zwar aus mehreren Gründen, von denen wir jetzt die beiden wichtigsten anführen möchten.
* Die Aufgabe übersteigt unsere Kräfte: Es ist ganz unmöglich, mit unseren eigenen Kräften die Heiligkeit zu erringen. Die ganze Heilige Schrift belehrt uns darüber, daß sie nichts anderes sein kann als die Frucht der göttlichen Gnade. “Jesus sagt uns: “Ohne mich könnt ihr nichts tun" (Joh 15,15), und der heilige Paulus: “Das Gute zu wollen, das liegt in meiner Reichweite, es zu vollbringen, aber nicht" (Röm 7,18). Die Heiligen selbst geben Zeugnis davon ...
* Gott allein kennt den Weg eines jeden: Ein zweiter Grund dafür, warum man nicht zur Heiligkeit gelangt, besteht darin, daß man sich ein Programm ausarbeitet. Es gibt ja ebenso viele Formen der Heiligkeit - und daher auch ebenso viele Wege dazu -, wie es Personen gibt. Jeder ist absolut einmalig für Gott.
Die Heiligkeit ist nicht die Verwirklichung eines bestimmten Modells der Vollkommenheit, das für alle identisch wäre. Sie ist das Aufbrechen einer absolut einmaligen Wirklichkeit, welche Gott allein kennt und welche Er allein aufblühen läßt.
Niemand ist sich bewußt, worin seine eigenen Heiligkeit besteht, diese wird ihm nur nach und nach auf seinem Weg enthüllt, und sie ist oft etwas ganz anderes, als man es sich vorher vorgestellt hatte. Daher kommt es, daß das größte Hindernis auf dem Weg zur Heiligkeit vielleicht darin besteht, sich allzu sehr an die Vorstellung anzuklammern, die man sich selbst von seiner eigenen Vollkommenheit gemacht hatte.
Diejenige aber, welche von Gott gewollt ist, ist immer anders, manchmal verwirrend und unverständlich, letzten Endes aber unendlich viel schöner, denn Gott allein ist fähig, absolut einmalige Meisterwerke zu schaffen, während der Mensch sich nur auf die Nachahmung versteht.
Das hat eine bedeutende Konsequenz. Um zu Heiligkeit zu gelangen, darf der Mensch sich nicht damit zufrieden geben, allgemeinen Grundsätzen zu folgen, wie sie für alle passend sind. Er muß auch zu verstehen lernen, was Gott gerade von ihm, und vielleicht von niemandem sonst, verlangt.
Wie kann man das erkennen? Selbstverständlich auf verschiedene Weisen: durch die Ereignisse des Lebens, die Ratschläge eines Seelenführers und noch viele andere Mittel.
Unter ihnen gibt es solche, deren grundlegende Bedeutung es verdient, näher erläutert zu werden. Es handelt sich um Einsprechungen der göttlichen Gnade. Anders ausgedrückt, es geht um innere Einsprechungen, um jene Regungen des Heiligen Geistes in der Tiefe unseres Herzens, durch welche Gott uns das erkennen läßt, was Er von uns verlangt, und durch welche Er uns gleichzeitig die nötige Kraft zukommen läßt, um das Erkannte in die Tat umzusetzen, allerdings unter der Bedingung unserer Zustimmung. (...)Gott liebt alle Menschen mit gleicher Liebe, und Er möchte alle zur Vollkommenheit führen, gleichzeitig aber hat Er für jeden von uns einen ganz verschiedenen Weg. Das heißt, daß die Einsprechungen der Gnade von einer Person zur anderen recht unterschiedlich in der Art und Weise sowie in ihrer Häufigkeit sein können. Man kann den Heiligen Geist nicht zwingen, und Gott ist der Herr über Seine Gaben.
Es besteht indessen kein Zweifel daran, daß Gott jedem Menschen zumindest all jene Einsprechungen gibt, die zu seiner eigenen Heiligung notwendig sind. Hören wir, was der heilige Franz von Sales dazu sagt:
“Oh! Wie glücklich sind jene, die ihre Herzen geöffnet halten für die heiligen Einsprechungen. Denn diejenigen, die ihnen nötig sind, werden ihnen niemals fehlen, damit sie gut und fromm in ihrem jeweiligen Stand zu leben und auf heiligmäßige Weise ihre Berufspflichten zu erfüllen vermögen. Wie Gott nämlich durch die Natur jedem Tier die Instinkte gibt, die es zu seiner Selbsterhaltung und zur Ausübung der ihm eigenen Funktionen nötig hat, so gibt Er auch jedem von uns, wenn wir der Gnade Gottes keinen Widerstand entgegensetzen, die notwendigen Einsprechungen, um in das geistliche Leben einzutreten und uns in ihm zu erhalten."
Es wäre noch hinzuzufügen, daß die Regungen des Heiligen Geistes, selbst wenn sie leider im Leben sehr vieler Christen nur wenig beachtet werden, an sich keineswegs etwas Außergewöhnliches sind; sie gehören vielmehr zum “normalen Funktionieren" des geistlichen Lebens.
Der heilige Paulus weist hierauf hin, wenn er sagt: “Alle diejenigen, die vom Geiste Gottes geleitet werden, sind Kinder Gottes" (Röm 8,14), und an anderer Stelle: “da der Heilige Geist unser Leben ist, wollen wir auch aus dem Heiligen Geist heraus handeln" (Gal 5,25).
Wir haben alle durch die Taufe die Annahme an Kindes statt und die Gnade des Heiligen Geistes empfangen. Die normale Frucht dieses Sakramentes ist in unserem Leben das Aufblühen dessen, was man in der Theologie die “Gaben des Heiligen Geistes" nennt. Und diese haben zum Ziel, “die Seele dazu vorzubereiten, unverzüglich den Antrieb der göttlichen Einsprechungen zu erfahren" (heiliger Thomas von Aquin).
Dieser sagt auch: “Die Gaben des Heiligen Geistes machen alle Anlagen der Seele fähig, den göttlichen Regungen zu entsprechen."
Jeder Christ soll also nach diesen Gnaden der Einsprechungen verlangen und darum bitten. Gott gibt sie zwar in größerem oder geringerem Ausmaß, und “wem viel gegeben wurde, von dem wird auch viel verlangt" (Lk 12,48), wie andererseits von dem, der weniger erhalten hat, auch weniger gefordert wird.
Es ist aber zu bedenken, daß sie keineswegs fakultativ sind, denn sie können für unseren geistlichen Fortschritt entscheidend sein, und es ist von größter Wichtigkeit, sie in unser Leben aufzunehmen.
Der Autor ist Verantwortlicher der Priesterbruderschaft der Gemeinschaft der Seligpreisungen, sein Beitrag ein Auszug aus “In der Schule des Heiligen Geistes".
In der Schule des Heiligen GeistesDas Büchlein gibt eine Reihe von Hilfen, was dazu beitragen kann, hellhörig für die Wegweisungen des Heiligen Geistes zu werden. Einige Punkte, die der Autor hervorhebt, seien da beispielsweise erwähnt:
* Da ist zunächst die Dankbarkeit Gott gegenüber. Kommt sie nicht vielfach zu kurz?
* Die Entscheidung, Gott nichts zu verweigern, ist ein weiterer wichtiger Punkt. Keine Vorbehalte im Vertrauen darauf, daß Gott uns ausschließlich auf Wege des Heils führen will.
* Wo Gott ein kindliches Vertrauen entgegengebracht wird, fällt auch der Gehorsam nicht mehr so schwer.
* Erforderlich ist natürlich auch eine wachsende Bereitschaft, vieles loszulassen, was auf diesem Weg hinderlich ist.
* Niemanden wird es schließlich verwundern, daß nur jene auf diesem Weg vorankommen werden, die dem Gebet in ihrem Leben breiten Raum einräumen.
Klarerweise geht der Autor auch auf die Frage der Unterscheidung der Geister ein. Denn nicht jede Intuition ist vom Heiligen Geist. Und was mir besonders gut gefällt, ist der Hinweis auf die große Freiheit, in der diese Hingabe geschehen sollte, eine Freiheit, die vor jeder ängstlichen Sorge bewahren sollte, nicht jeder “Anweisung" gefolgt zu sein.
Ein lesenswertes Buch.
“In der Schule des Heiligen Geistes", von Jacques Philipp, Parvis-Verlag, Hauteville 1996, 128 Seiten.