Wie wunderbar der Heilige Geist gerade heute in der Kirche wirkt, erkennt man an den den vielen Erneuerungsbewegungen. Zu welchen Hoffnungen sie Anlaß geben und inwiefern sie gefährdet sind, untersucht im folgenden der Wiener Erzbischof.
Das Aufbrechen der neuen geistlichen Bewegungen im 20. Jahrhundert, besonders in dessen zweiter Hälfte, stellt in mancher Hinsicht etwas Neues dar, doch ist es nicht völlig analogielos. Es gibt kaum ein Jahrhundert in der 2000jährigen Kirchengeschichte, in dem es nicht vergleichbare Phänomene gegeben hätte.
Zu allen Zeiten sind die Geistausgießungen nicht nur beschränkt auf die Gaben und Gnaden für die einzelnen Personen, sondern sie manifestieren sich auch in der Gestalt von gemeinschaftlichen Aufbrüchen und Bewegungen. Religionssoziologie und -psychologie, Kultur- und Sozialgeschichte werden für diese Aufbrüche immer wieder auch andere als rein geistliche Gründe nennen können.
Die große Bewegung des Mönchtums, die fast zeitgleich mit der Konstantinischen Wende aufbricht, hat durchaus auch soziale, politische, kulturelle Wurzeln. Dies ist kein Argument gegen die zutiefst geistliche, geistgewirkte Kraft dieser Bewegung. Die Kirche wächst stets, nach den Worten des Konzils, aus irdischen und himmlischen Elementen zu einer komplexen, geheimnisvollen Wirklichkeit zusammen.
Die große monastische Bewegung im 12. Jahrhundert, die Europa mit Zisterzienserabteien übersät hat, die unglaubliche Dynamik der Mendikantenbewegung des 13. Jahrhunderts, die in den neu entstehenden Städten überall Dominikaner- und Franziskanerklöster aus dem Boden sprießen ließ, auch diese Europa so tief prägenden Bewegungen sind komplexe Wirklichkeiten, in denen sich ein ganzes Bündel von Faktoren zusammenfindet.
Entscheidend jedoch ist an diesen Aufbrüchen, daß sie eine tiefe religiöse und menschliche, kulturelle und gesellschaftliche Prägekraft entfaltet haben. Sie haben wirklich “das Antlitz der Erde erneuert". In der großen Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts hat der Neuaufbruch der “katholischen Reform" durchaus den Charakter eines neuen Pfingsten. (...)
Die Zahl der “Movimenti", die seit dem Zweiten Weltkrieg, besonders aber seit dem Zweiten Vaticanum entstanden sind, ist inzwischen derart angewachsen, daß es bereits eines umfangreichen Repertoriums bedürfte, wollte man sie alle registrieren. Was bedeutet dieser große Aufbruch?
(...) Zunächst lassen sich die “Movimenti" mit vier Kennzeichen charakterisieren:
* Die neuen geistlichen Bewegungen sind meist übernational, international, vielfach weltweit. Sie sind ein deutlicher Ausdruck der Universalität der Kirche. Das bringt gelegentlich gewisse Spannungen zur Ortskirche mit sich. Diese Spannungen sind nicht neu. Auch die Mendikatenbewegung des 13., die Orden des 16., die Kongregationen des 19. Jahrhunderts waren mit ihrer weltweiten Dimension immer wieder ein Hinweis darauf, daß die Kirche sich nicht zur Nationalkirche verkürzen darf.
Die neuen geistlichen Bewegungen sind daher ein mächtiger Stimulus, über die Grenzen der Ortskirche hinauszusehen. Die Gefahr des Nationalkirchentums ist in der Kirche stets gegenwärtig. Doch Pfingsten ist, vom ersten Pfingsten in Jerusalem angefangen, stets völkerverbindend, grenzüberschreitend, katholisch-universal.
Das Petrusamt ist Ausdruck und Garant dieser Universalität der Kirche. Es ist daher kein Zufall, daß die neuen geistlichen Bewegungen sich besonders mit dem Papst und seinem Dienst an der Einheit der Weltkirche verbunden wissen, daß seinerseits der Papst die neuen geistlichen Bewegungen besonders fördert. (...)
* In den neuen geistlichen Bewegungen zeigt sich eine erneuerte Gestalt der Zusammenarbeit von Laien und Priestern. Was das Zweite Vatikanum gewollt und gewährt hat, ist in diesen Gemeinschaften vielfach schon zur gelebten Wirklichkeit geworden. Die geistlichen Bewegungen sind vielfach ausgesprochene Laienbewegungen, entfalten sich jedoch nicht im Gegensatz zur Hierarchie, sondern in einer engen Verbindung und Communio mit dieser.
Ein untrügliches Zeichen dieser Communio ist die Tatsache, daß diese Laienbewegungen so viele geistliche Berufungen hervorbringen. Viele Priester, die in der nachkonziliaren Krise den Boden unter den Füßen verloren haben und nicht mehr um ihre Identität wußten, haben durch die geistliche Erfahrung der neuen Bewegungen einen neuen Zugang zu ihrer priesterlichen Berufung gefunden.
Gleichzeitig haben die geistlichen Gemeinschaften vielen Priestern geholfen, einen gewissen Klerikalismus zu überwinden und sich ohne Angst um Positionsverluste in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, zum Teil auch ausdrücklich unter der Leitung von Laien. Viele Priester machen auch die Erfahrung, von den Laien der Gemeinschaften wirklich menschlich und christlich getragen zu werden. Umgekehrt ist es für viele Laien auch eine Neuentdeckung des Unverwechselbaren am priesterlichen Dienst. In einer Atmosphäre, in der der priesterliche Dienst geschätzt und gesucht wird, wachsen auch neue Priesterberufungen.
* Die Frage der Frau in der Kirche ist zu einer der brennendsten Fragen der Gegenwart geworden. In den geistlichen Bewegungen zeigt sich ein neues Bild der Frau in der Kirche, das für die Zukunft prägend und orientierend sein kann. Eine ganze Reihe der neuen geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften haben Frauen als Gründerinnen und de facto als Leiterinnen. (...)
* Von großer Tragweite wird sich, so glaube ich, in Zukunft die gesellschaftliche Prägekraft der neuen geistlichen Bewegungen erweisen. (...) Es zeichnet sich eine neue christliche Kultur ab. Es ist beeindruckend zu sehen, in wieviele Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens die neuen geistlichen Bewegungen hineinwirken: in das Schulwesen, in die Universitäten, in die theologische und literarische Arbeit, in die künstlerische Tätigkeit. Ist es vermessen zu hoffen, daß die neuen geistlichen Bewegungen dazu beitragen, daß sich eine erneuerte christliche Kultur ausprägt?
Gefahren liegen in jedem geistlichen Neuaufbruch. So ist es nicht verwunderlich, daß manche Autoren besonders die mit den neuen geistlichen Bewegungen gegebenen Gefahren betonen und vor ihnen warnen. Die richtige Antwort auf solche besorgte Stimmen ist sicher nicht eine vorschnelle Apologetik, sondern ein nüchternes Ernstnehmen dieser Sorgen. (...)
* Geistliche Bewegungen sind immer wieder in Gefahr, ihren Weg als den Weg der Kirche zu sehen. Kein Charisma genügt sich selbst. Kein geistlicher Aufbruch ist die Antwort für die Kirche einer bestimmten Zeit. Die wachsende Zusammenarbeit der geistlichen Bewegungen, vom Papst entschieden gefördert, wirkt kräftig dieser Versuchung entgegen und trägt dazu bei, daß die Charismen der einzelnen Erneuerungsbewegungen sich ergänzen und für die ganze Kirche zusammenwirken.
* So wichtig der universalkirchliche Aspekt der geistlichen Erneuerungsbewegungen ist, so wichtig ist es, daß sie bereit sind, sich in den Dienst der Ortskirchen zu stellen. Viele Erneuerungsbewegungen sind erfreulicherweise bereit, sich in den Pfarren zu engagieren, den Bischöfen und den Ortskirchen mit ihren Laien und Priestern zu Hilfe zu kommen. Ich sehe die geistlichen Bewegungen im Leben der Diözese als “Frischzellen", die den ganzen Leib beleben können. Das setzt freilich voraus, daß die geistlichen Bewegungen sich bewußt als Teil, als Glieder der Kirche, des Leibes der Kirche, des Leibes Christi verstehen und nicht versuchen, gewissermaßen Kirche in der Kirche zu sein. (...)
* Der vielleicht delikateste und wichtigste Punkt: Die Charismen sind uns gegeben für den Aufbau der Kirche. Sie sind noch nicht Garanten der Heiligkeit. Die charismatischen Aufbrüche in der Kirche, wie sie uns in den neuen geistlichen Bewegungen begegnen, sind Geschenke des Heiligen Geistes an die Kirche zu deren Aufbau und Erneuerung. Sie garantieren noch nicht die persönliche Heiligkeit der Mitglieder. Der Weg der persönlichen Heiligung verläuft für die Mitglieder der geistlichen Bewegungen nicht anders als für jeden anderen Christen. Nur die im Heiligen Geist gelebten göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe führen zur Heiligkeit.
Die geistlichen Bewegungen mit ihren besonderen Charismen sind kostbare Geschenke und Hilfen auf dem Weg der Heiligkeit. Diesen Weg freilich müssen die Mitglieder der Movimenti ebenso gehen wie alle anderen Christen. Es tut den Mitgliedern der Movimenti oft gut, der Gefahr des geistlichen Hochmuts dadurch zu begegnen, daß sie beschämt und dankbar vor “ganz gewöhnlichen Christen" sich verbeugen, die weder in einer Katholischen Aktion noch in einem Movimento engagiert sind und die einfach in ihrem Alltag die Nachfolge Christi in vorbildlicher Weise leben.
Auszug aus dem Vortrag bei der Tagung “Christentum, Europa und Ungarn" in Pannonhalma.