Jean Vanier ist eine der großen lebenden christlichen Persönlichkeiten. Als Sohn des Generalgouverneurs von Canada geboren, war er 36 Jahre, als er den Dienst bei der Marine quittierte, um sich ganz in den Dienst Jesu Christi, in der Gestalt der Ärmsten, zu stellen. Das Ergebnis: mehr als 100 Gemeinschaften der “Arche", die in rund 30 Ländern 1.500 behinderte Personen aufnehmen.
Für viele Alleinstehende ist die Einsamkeit die größte Last. Wie kann man ihr Sinn geben?
Jean Vanier: Ob wir verheiratet sind oder zölibatär leben, es bleibt das Gefühl der Einsamkeit, das Gefühl, nicht geliebt zu sein und nie mehr geliebt zu werden das fundamentale Leiden des Menschen. Einige verfallen der Traurigkeit, sobald sie die Finsternis und die Ängste in ihrem Inneren entdecken; andere reagieren mit der Entwicklung eines Super-Ego oder sie flüchten in die Verhirnung, den Kult der Äußerlichkeit, die Arbeit, die Vergnügungssucht... Oder aber sie wollen die Erfahrung mittels Alkohol, Drogen oder Gewalttätigkeit kompensieren. Man versucht verzweifelt, die Leere in sich zu füllen. Aber man hat den Impuls des Herzens verloren, der zur Aufmerksamkeit für den Mitmenschen und seine Bedürfnisse führt. Diese ist aber die Basis der Gemeinschaft und des gegenseitigen Vertrauens. Wer seiner Einsamkeit entkommen will, darf nicht vor seiner Verletzlichkeit davonlaufen, denn lieben heißt, verwundbar zu sein; es macht das Kind in uns erkennbar.
Wer die Einsamkeit hinter sich lassen will, muß also zu lieben lernen?
Vanier: Ja! Die wahre Liebe reißt uns aus unserer Isolation. Wer ein reifes Gefühlsleben erringt, der vermag zur inneren Freiheit zu gelangen und sich auf eine tiefere Gemeinschaft mit anderen zuzubewegen. Der kleine Mensch braucht lange, um zur physischen, intellektuellen und psychischen Reife zu gelangen, und um fähig zu werden, sich den Herausforderungen der Welt zu stellen. Ein reifes Herz zu erwerben, dazu braucht es die Fähigkeit, seine Feinde zu lieben. Man muß ein Mann, eine Frau des Friedens sein und damit auch stets bereit zu vergeben.
Was ist denn das größte Hindernis für diese Reife?
Vanier: Die Angst! Man hat Angst, den Leuten zu begegnen, sich an sie zu binden, sich für andere verantwortlich zu fühlen, die eigenen Schwächen erkennen zu lassen und voneinander abhängig zu werden. Wir wissen ja nicht, wohin uns der andere mitnimmt. Und so verschließt man sich. Man ergreift die Flucht! Das Kind denkt sich: “Wenn ich größer bin, wird alles besser." Ist man etwas älter: “Morgen geht es besser, sobald ich Arbeit finde, wird's besser." Und dann: “Wenn ich verheiratet bin, werde ich glücklich sein." Aber man sieht Tag für Tag dasselbe Gesicht! “Wenn wir Kinder haben..." Sie plärren die ganze Nacht: “Wenn sie groß sind..." Aber gerade dann fangen ja die Probleme an! “Wenn wir dann endlich zu zweit sein werden..." Dann aber heißt es: “Als wir jung waren, da war alles gut!"
Wenn ich vor etwas davonlaufe, lebe ich in einer Traumwelt. Es fällt uns schwer, das Heute anzunehmen. Die Hoffnung hat aber ihre Wurzeln in der Bereitschaft, die Realität so zu nehmen, wie sie ist. Es geht darum, die tiefe Verwundung unserer menschlichen Befindlichkeit anzunehmen. Sobald man erkennt, daß man Tempel des Heiligen Geistes ist und daß Er in uns lebt, vergeht die Angst vor der eigenen Zerbrechlichkeit und Schwäche. Das ist das Sakrament der Einsamkeit: der Ort der Gegenwart Gottes.
Ist es, um der Einsamkeit zu entkommen, also wichtiger eine gewisse innere Reife zu erlangen, als einen Ehepartner zu finden?
Vanier: Um mit der Unterschiedlichkeit zurecht zu kommen, bedarf es einer Reife des Herzens und des Geistes, die man nicht von Anfang an besitzt. Anstelle einer wahrhaften Annahme des anderen wird ja oft ein Verschmelzen mit dem anderen gesucht: Man mag einander, ist einander verbunden, aber ohne daß man den anderen in seiner Besonderheit und seinem Bedürfnis zu wachsen annimmt. Der Respekt verlangt, daß man dem anderen den Freiraum läßt, den er zum Wachsen braucht, daß man seine Grenzen nicht einrennt. Wer will, daß der andere leben kann, muß ihm viel Raum geben. Und das erzeugt Leiden, es verlangt eine innere Kraft. Es ist die Liebe, die uns vom: “die anderen für mich", zum: “ich für die anderen" gelangen läßt.
Da bedarf es jeden Tag kleiner Anstrengungen, um seine Egoismen zu überwinden, um sich nicht von der Finsternis und den Ängsten, die in jedem von uns sind, beherrschen zu lassen. Da gilt es, auf das Wachstum der Liebe und des Dienens ausgerichtet zu bleiben und auf die Quelle aller Gemeinschaft: auf Gott selbst. Auf diese Weise entdeckt der Mensch seinen persönlichen Ruf: mit einem liebenden Herzen, das zur Freundschaft und zur Liebe fähig ist, können Männer und Frauen echte persönliche Beziehung anknüpfen. Sie haben Persönlichkeit entwickelt. Ihr rein sexueller Antrieb ist besser in ihre Beziehungsfähigkeit integriert, ist nicht mehr dieser wilde Drang, der antreibt, den anderen zu begehren. Wo Herz und Identität gefestigt sind, kann der Mensch eine Bindung ins Auge fassen, in der Ehe, als Priester, im Gott geweihten Leben...
Tatsächlich hört man oft von Schwierigkeiten im Umgang mit der eigenen Sexualität beim Eingehen wahrhafter Beziehungen zu anderen...
Vanier: Jeder Mensch ist unvollständig, auch unser Körper ist es: Der Mann braucht die Frau, die Frau den Mann. Beide sind sexuelle Wesen, auf den anderen ausgerichtet. Tagtäglich erkenne ich besser, wie sehr die menschliche Sexualität sowohl eine kostbare als auch eine schmerzliche Realität ist. Wenn der Mann nicht in sich selbst ruht, kann er die Frau unterdrücken, sie als Gegenstand behandeln. Statt in ihr die viel Geliebte zu sehen, die zum Wachsen berufene Person, wird er sie zu erobern und für sich zu besitzen suchen. Dann ist er beziehungsunfähig. Und die Frau versteht es dann, sich heimlich zu rächen.
Die Medien stacheln die sexuellen Regungen an, sie banalisieren die sexuellen Beziehungen, indem sie alles, was an der Begegnung heilig ist, beiseite wischen. Es gibt also kaum etwas Wichtigeres als dem Mann und der Frau dabei zu helfen, ihre Sexualität in eine wahre Liebe zu integrieren. Das öffnet sie für eine wahrhafte Beziehung. Die Sexualität zu integrieren, heißt nicht mehr von ihrem Trieb beherrscht zu sein, von der Suche nach dem eigenen Vergnügen. Es heißt, dem Bund mit dem anderen treu zu sein, seine Sexualität nur in einer von Gott gesegneten Beziehung auszuüben. Das ist nicht einfach. Der sexuelle Drang kann zerstörerisch sein. Und dennoch birgt er etwas sehr schönes: Das tiefe Hingezogensein zum anderen, die Sehnsucht nach Intimität, die Sehnsucht, einem Kind das Leben zu schenken.
Macht diese Tatsache das Alltagsleben zölibatärer Menschen nicht recht schwierig?
Vanier: Das Fehlen dieser vollständigen Intimität mit jemandem und der Verzicht auf Vater- oder Mutterschaft erzeugen tatsächlich ein Leiden. Allerdings bringt auch die Ehe Leiden mit sich. Die Einheit ist unvollständig. Auf Erden werden wir nie die vollkommene Ekstase und Fülle erleben. Die wahre Liebe vollendet sich zwangsläufig im Leiden und im Opfer, weil sie Hingabe ist. Wenn man jemanden liebt, haben dessen Freiheit und Wachstum, das, was ihm guttut, Vorrang vor der Freude, mit ihm zusammenzusein. Die Liebe muß immer befreiend wirken. Die Last des Zölibats kann in der Hoffnung gelebt werden, die irgendwie die Angst vor der Einsamkeit verdrängt. Dieses Leiden ist nichts im Vergleich zu dem Leiden jener, die meinen in einer verantwortungslos ausgelebten Sexualität ohne Bindung, ohne Fruchtbarkeit den Hauch der Ewigkeit zu schmecken. Sie erleben zwangsläufig eine Enttäuschung, weil sie in noch größerer Vereinsamung landen: Das Vergnügen ist so flüchtig, die Angst aber so nahe!
Und wenn man unfreiwillig zölibatär leben muß, wie kann man das annehmen?
Vanier: Indem man den Zölibat nicht als nicht enden wollendes Warten, sondern als ein Geschenk Gottes, in langen Jahren zu reifen, annimmt. So wird der Zölibat zu einem wahren Anruf Gottes. Einige bejahen das mit ebenso viel Freude und Begeisterung, wie andere heiraten. Sie entdecken außerdem, daß es viel einfacher ist, sich klar zu diesem Zustand zu bekennen, indem sie sich auf die treue Liebe von Ihm, der sie berufen hat, stützen, als wenn sie in einer gewissen Unschlüssigkeit verharren. Den Zölibat als Antwort auf einen Anruf Gottes anzunehmen, setzt voraus, daß man darüber mit einem Priester oder einer anderen im Glauben stehenden Person gesprochen hat, die einen auf diesem Weg bestärkt hat. Der Entschluß zu diesem Ja ist dann nicht eine Verhärtung des Herzens oder eine Flucht vor einer Beziehung ins Spirituelle. Im Gegenteil. Das für Jesus, den Freund und Gemahl offene Herz macht die Menschen noch sensibler für menschliches Leiden, offener, liebender, bringt sie den anderen näher.
Dieser zölibatäre Status bleibt jedoch ein Geheimnis. Ich meine, daß Jesus sich danach sehnt, jenen, die gezwungenermaßen zölibatär leben, zuhilfe zu kommen. Er möchte sie tief in ihrem Herzen berühren, um ihnen den Frieden einer neuen Liebe zu schenken. Das ist die den Armen verkündete Gute Nachricht. Das ändert nichts daran, daß es im Herzen von jedermann, sei er nun verheiratet oder alleinstehend, Momente der Ängstlichkeit, der Frustration gibt und Zeiten, in denen man seine Angst hinausschreit. Diese harte Realität muß man zur Kenntnis nehmen. Wir leben noch nicht im Paradies.
Auszug aus einem Gespräch von Sabine Chevallier in “Famille Chrétienne"