Die ganze Familie ist um den Tisch versammelt. Das Mittagessen geht seinem Ende zu und es wird viel gelacht. Sylvia aber geht die Reaktion ihres Vaters nicht aus dem Sinn, als ihr kleiner Sohn eben das Glas umgeleert hat. Er, der sonst immer die Ruhe selbst war, hat sich furchtbar aufgeregt...
Und kurz darauf hat er - zum wievielten Mal? - die Geschichte von P. Eduard und seinen Hühnern zum Besten gegeben. Jetzt steht er auf, um ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Und dabei konnte er zehn Stunden durcharbeiten, als er noch Herausgeber war.
Da wird ihr plötzlich klar: Ihr Vater ist nicht krank, er hat auch keine besonderen Sorgen. Nein, er wird einfach alt.
Schlagartig oder schleichend stellt sich dieses Bewußtsein vom Altern der Eltern früher oder später ein. Aber niemand entgeht dieser Erfahrung. Und wenn man sich dieser Einsicht verschließt, dann kommt der Tag, an dem der körperliche Abbau unübersehbar wird und man sich der Tatsache stellen muß.
Die Zeichen des Alterns schleichen sich heimlich im Alltagsleben ein: das laut aufgedrehte Radio, die unentbehrliche Siesta, die zunehmende Vergeßlichkeit... und das nachlassende Interesse. Die Arztbesuche, der Kauf einer neuen Waschmaschine, das Fernsehprogramm gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. Losgelöst von der Arbeitswelt, die ja wichtig für die soziale Integration ist, verlangsamt sich der Rhythmus von Eltern, die in Pension sind. Es entsteht ein Abstand zur Welt der “Aktiven", zu der ihrer erwachsenen Kinder.
“Der alternde Erwachsene verliert seine Rollen, eine nach der anderen: die Rolle des Kindes mit dem Verlust der eigenen Eltern, die Rolle des Berufstätigen mit der Pensionierung, die Rolle des Erziehers, manchmal die des Ehegatten im Falle der Witwenschaft... Und so entsteht ein neuer Modus der Beziehung zur Umwelt. Es kommt zu einer Einengung des Raumes - des Hörens, des Sehens, der Bewegung, aber auch im Bereich des Sozialen, des Intellekts... - und paradoxerweise zu einem Abstandnehmen. Alles scheint komplizierter und weiter weg," so die Analyse von Maximilienne Levet-Gautrat, Spezialistin für Altersfragen und heute selbst 78 Jahre alt.
Erwachsene Kinder finden sich nicht leicht damit ab, ihre Eltern altern zu sehen. Alle körperlichen und Verhaltensänderungen des alternden Erwachsenen führen bei den Kindern zu einer Veränderung des Elternbildes. Das Bild der Autorität, der Autonomie, der vollen physischen Kraft, manchmal des sozialen Erfolgs verblaßt. “Beim Schulschluß habe ich meinen kleinen Sohn im Gespräch mit einem seiner Freunde überrascht. Er rühmte gerade die sportlichen Leistungen seines Vaters. Innerlich habe ich gelächelt, weil auch ich in seinem Alter stolz auf meinen Vater war, der jeden Morgen 20 Liegestütz machte! Und heute? Da tut sich Papa schwer, die Stiegen zu steigen und er gerät außer Atem, kaum daß er eine etwas schwerere Tasche trägt...," erzählt Sylvia nostalgisch.
Weil die Kräfte und die Reaktionsfähigkeit der Eltern nachlassen, nehmen deren Kinder oft die Dinge in die Hand und werden auf diese Weise manchmal zu Beschützern ihrer Eltern. “Als ich im Fotoalbum geblättert habe, bin ich auf ein Bild gestoßen, bei dem man sieht, wie Mutter mir das Radfahren beibringt. Jetzt bin ich es, die ihr beibringt, mit der neuen Kaffeemaschine umzugehen," erzählt Isabella.
Und Dominique Duvernier, eine Psychiaterin bestätigt: “In diesem Lebensalter dreht sich die Beziehung Eltern/Kind um. Aus der Rolle des Beschützten wird das Kind zum Beschützer. Plötzlich begreift es, daß es in die erste Reihe zu treten hat."
Diese Zeit des alternden Menschen stellt oft eine große Herausforderung für die Kinder dar. “Diese Frau, die den Geburtstag ihrer Kinder vergißt, gerät jedesmal in Panik, wenn zwei Leute zum Essen kommen, sie will nicht mit dem neuen Telefon umgehen lernen, erträgt den Lärm der Kinder nicht - ja, diese Frau ist meine Mutter."
Je mehr man ihn liebt, umso schwerer fällt es, zu sehen, wie der andere schwächer, leidender wird und wie er immer weniger jenem Bild entspricht, das wir von ihm hatten. Unsere Eltern in all diesen kleinen Ärgernissen des Alltags zu ertragen, erfordert eine gewisse Anstrengung. Aber ist das nicht die eigentliche Liebe?
“Wenn ich meinem Vater zum dritten Mal meine neuen beruflichen Aufgaben erklären muß, verliere ich leicht die Geduld und bin am Rande eines Ausbruchs. Gerade im Anschluß an solche Erfahrungen aber denke ich über die Herausforderung der Kindesliebe nach. Als kleines Kind bekommt man, nimmt man und konsumiert. Aber wenn die Beziehungen schwieriger werden, kommt die Zeit des Gebens. Da dringt man zum Wesentlichen vor: Die wahre Liebe ist ein Willensakt," analysiert Benoit.
Sich damit abzufinden, daß die Eltern alt werden, ist das nicht einfach der Weg, sie wirklich lieben zu lernen?
Béatrice Courtois
Auszug aus “Famille Chrétienne" v. 28.7.01