Kaum ein Ereignis hat die Welt so beschäftigt wie die Katastrophe von New York. Die Medienberichte haben wesentlich dazu beigetragen. Noch nie war man ja “live" bei einem Ereignis dabei gewesen, bei dem Tausende ums Leben kamen. Die Bilder haben sich in unser Gedächtnis gebrannt.
Das Geschehen wurde im Gefolge ausgiebig kommentiert, mehr noch: zu Tode geschrieben. Schade. Denn eigentlich hat es sehr wesentliche Fragen aufgeworfen und kurzfristig ins Bewußtsein gerufen. So auch die Frage nach Gut und Böse. Daß Präsident George Bush es in einer zweifelhaften Weise getan hat, sollte uns nicht davon abhalten, in dieser Frage am Ball zu bleiben.
In seiner großen Rede vor dem Kongreß kam der US-Präsident darauf zu sprechen, daß sich von nun an alles daran entscheiden würde, auf welche Seite sich die Länder der Welt stellen. Wer nicht für die USA ist, sei gegen sie, sagte er sinngemäß. Diese Aussage erinnerte fatal an die Stelle im Lukasevangelium, in der Jesus Christus klarstellt, daß sich alles an der Entscheidung für oder gegen Ihn entscheide. Bedenklich auch der Deckname der Afghanistan-Intervention: “Infinite Justice" (unendliche Gerechtigkeit) mag zwar Patriotismus wecken, ist aber im Grunde genommen eine unerhörte Anmaßung.
Kommt da nicht eine erschreckende Überheblichkeit zum Ausdruck? Besteht nicht die Gefahr, daß diese - zugegeben in schwierigen Tagen auch verständliche - Schwarz-Weiß-Malerei uns daran hindert, eine wichtige Botschaft der Ereignisse zu erkennen, nämlich daß Gut und Böse nicht streng geographisch verteilt sind? So offenkundig der Terrorismus Werk des Bösen ist, so wenig dürfen wir der Frage ausweichen: Findet dieser bis zur Selbstvernichtung gehende Haß des Terrors seinen Nährboden nicht auch in unserer sündhaften Verstrickung mit dem Bösen?
Auch wir sind dessen Heimat und weit davon entfernt, Gerechtigkeit, noch dazu eine grenzenlose, unendliche, zu üben: Unsere Wohlstandswelt übt eine subtile Form des Terrors gegen Ungeborene, gegen alte, schwache, leidende Menschen, gegen die Armen und Hungernden der Welt aus. Mit der Intervention in Afghanistan werden jetzt Milliarden verpulvert, die für Schuldenerlaß, Schutz der Umwelt, Unterstützung Schwangerer in Not, für den Hunger in der Welt zu schade waren.
Es ist ein schrecklicher Irrtum, in Osama Bin Laden den großen Feind des Abendlandes zu sehen. Unser größter Feind ist der Teufel. Beim Einsturz der Türme des World Trade Centers war auch er am Werk.
Bemerkenswert, daß dies kaum thematisiert worden ist. Vielmehr wurde die sehr verständliche Frage gestellt: Wie kann Gott so etwas zulassen? Noch dazu ein Gott, von dem die Christen sagen, Er sei allmächtig, gütig und barmherzig!
Jesus selbst wird mit dieser Frage konfrontiert. “Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, so daß sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, daß nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms von Schiloach erschlagen wurden - meint ihr, daß nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. " (Lk 13, 1-5)
Schockierend, die Antwort, die der Herr gibt. Sie ist keine spezielle Schuldzuweisung an die Opfer, sondern verweist auf die Quelle des Übels, auf unser aller Schuldverwobenheit - und auf die sich notwendigerweise aus ihr ergebend Konsequenz: Untergang oder Umkehr.
Frage: Sind wir aufgrund der Ereignisse umgekehrt?
In vielen Gesprächen seit dem 11. September war zu hören - auch von Menschen, die sonst in Optimismus und heile Welt tun: So kann es nicht weitergehen. Und das stimmt. Aber es kann eigentlich schon lange nicht mehr so weitergehen. Nur haben wir es bisher meist erfolgreich verdrängt. Jetzt aber ist es kurzfristig offenbar geworden: Eine grundlegende Änderung ist erforderlich.
Leider greift wieder der Alltag nach uns, schon trotten wir in der üblichen Routine dahin und versäumen eine einmalige Gelegenheit zur Umkehr. Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle zugrunde gehen! Umkehr - gut und schön. Haben wir schon gehört. Ein Lieblingsthema der Kirche. Aber wohin sollen wir denn umkehren? Wovon sollen wir uns abwenden?
Die am 11. September getroffenen Objekte sind Anhaltspunkte: Das World Trade Center, Symbol für das moderne Wirtschaftssystem, das Pentagon, Symbol der militärischen Macht, der Weltbeherrschung. Beides markante Wahrzeichen für ein die Welt beherrschendes System, das einer eigenen Logik der grenzenlosen Unterwerfung der Schöpfung zum Aufbau eines irdischen Paradieses folgt.
In diesem Fortschritt kommt der Mensch unter die Räder. Er degeneriert zum Konsumenten, der von der Werbung infantilisiert und gegängelt wird, zum Rädchen im Getriebe, das nach Bedarf eingestellt und abgebaut wird, zum Manager, der Kosten-Nutzen-Rechnungen optimiert und den “Shareholder value" maximiert, zum Funktionär, der Richtlinien und Statuten exekutiert.
Ich weiß schon, daß ich damit etwas überzeichne. Aber wir sind fraglos in diese Richtung unterwegs. Wir bauen an einer Welt, in der bald nur mehr die Leistung des Menschen, seine Kreativität und Intelligenz, seine Mobilität und Anpassungsfähigkeit, seine Begierden und seine Kaufkraft, seine Attraktivität zählen. Nehmen diese Eigenschaften ab oder fehlen sie ganz, gerät der vereinzelte, beziehungsarme Bürger der Wohlstandsgesellschaft an den Rand, ist bedroht, abgeschafft zu werden.
Wohin sollen wir also umkehren? Zum barmherzigen Gott, der uns als Botschafter Seiner Barmherzigkeit zu den Menschen senden will - aber nicht um ein abstraktes Programm abzuspulen. Denn menschenfreundliche Programme haben ja auch die ärgsten Regime. An allgemeinen Weltverbesserungsformeln mangelt es nicht. Wir brauchen die Umkehr hin zum konkreten Menschen, zu jenen, denen wir begegnen. Und wenn ich wir sage,, meine ich tatsächlich mich und Sie, liebe Leser.
Nach diesen schrecklichen Attentaten ist die Versuchung groß, die Notwendigkeit zur Umkehr auf die anderen zu projizieren: auf die Drahtzieher der Attentate, auf die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen für die viele Ungerechtigkeit, die in dieser Welt herrscht und die Nährboden für den schrecklichen Haß ist, der die Attentäter getrieben hat.
Jesus sagt aber: Ihr alle werdet so umkommen! Er meint wirklich uns. Es ist unsere Gleichgültigkeit gegenüber den Mißständen und der Not in der Welt, unsere Resignation und vor allem unsere mangelnde Zuwendung zum Nächsten, die zur Entstehung unserer kalten Welt beitragen. Es ist unser Mangel an Barmherzigkeit. Schon wieder die alte Leier, denken Sie jetzt vielleicht. Was sollen wir denn noch alles tun?
Ich merke es in meinem Alltag: Dauernd habe ich scheinbar wichtige Dinge zu tun (und sei es, die nächste Nummer von VISION fertigzustellen), hänge meinen Sorgen nach, trotte in der Alltagsroutine dahin. In mir und meiner Welt gefangen, übersehe ich allzu oft meine Mitmenschen und nehme ihre Sorgen, ihre Freuden, ihre Nöte, ihre Ängste gar nicht einmal wahr.
Hand aufs Herz: Leben wir nicht viel zu sehr nebeneinander her, aneinander vorbei - jedenfalls sehr viele von uns?
Sollten wir den 11. September nicht zum Anlaß nehmen zu einer persönlichen Umkehr? Sie wird die Welt bewegen, wenn wir uns von Gott jene Barmherzigkeit schenken lassen, die nur Er in uns wirken kann, die aber jeder, der uns über den Weg läuft, so dringend nötig hätte: einen freundlichen Blick, ein offenes Ohr, ein aufmunterndes Wort, ein mitfühlendes Zuhören, eine trostspendende Geste - kurz, eine Erfahrung, die im anderen die Erkenntnis aufblitzen läßt: Ich bin also doch nicht allein auf mich gestellt, uninteressant, hilflos, einem blinden Schicksal ausgeliefert. Vielleicht bin ich doch liebenswert!
Seid barmherzig, ruft uns der Herr zu, wie auch Euer Vater im Himmel barmherzig ist. Tragt diese Botschaft vom tiefsten Wesen Gottes in die Welt. Das ist die Umkehr, zu der wir am Beginn dieses 21. Jahrhunderts auch durch die Ereignisse am 11. September eingeladen werden.
Die USA brauchen Erneuerung
Der Weitblick und die moralische Kraft, die Amerika zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts in einer sich rasch wandelnden Welt haben muß, verlangen von uns, die spirituellen Wurzeln jener Krise zu erkennen, die die westlichen Demokratien durchleben.
Es handelt sich um eine Krise, die von einer sich immer weiter ausbreitenden materialistischen, utilitaristischen und zutiefst entmenschlichten Weltanschauung geprägt ist, die sich auf tragische Weise von den moralischen Grundlagen der westlichen Zivilisation entfernt hat.
Um überleben und sich entwickeln zu können, müssen sich die Demokratie und die mit ihr verbundenen wirtschaftlichen und politischen Strukturen von einer Sichtweise leiten lassen, deren Mittelpunkt die von Gott geschenkte Würde und die unveräußerlichen Rechte jedes Menschen vom Augenblick seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod sind.
Wenn in einigen Fällen das Leben, einschließlich das der Ungeborenen, von der persönlichen Entscheidung anderer abhängig ist, wird kein anderer Wert und kein anderes Recht mehr gewährleistet sein und die Gesellschaft unweigerlich von Eigeninteresse und Gewinnstreben beherrscht werden.
Die Freiheit kann nicht in einem kulturellen Umfeld gewahrt werden, für das die menschliche Würde ausschließlich utilitaristische Bedeutung hat. Nie war es ein dringenderes Anliegen, die für die Aufrechterhaltung einer gerechten und freien Gesellschaft grundlegende moralische Sichtweise und Entschlossenheit neu zu beleben.
Papst Johannes Paul II.
Ansprache an den neuen Botschafter der Vereinigten Staaten am 13.9.2001