Sie gehört heute zum Alltag: die Konfrontation mit sexuellen Motiven. Sie strahlen einem von der Plakatwand und vom FS- und Internet-Bildschirm entgegen, man bekommt sie als Vorspann von harmlosen Filme serviert, ja sogar im Lateinbuch meines ältesten Enkels hatten wir eine wirklich ärgerliche Geschichte zu übersetzen…
Wie systematisch die Sexualisierung vorangetrieben wird, zeigt folgende Meldung: „Zum Start des einzigartigen Projekts ,Liebe wie du willst – Projekt für sexuelle Selbstbestimmung und gegen Homophobie’ wurden die ersten Poster und Plakate und Infomaterialien an allein 143 Einrichtungen in Gießen versendet. Auf den Postern und Postkarten ist dem Motto entsprechend die ganze Palette an Paar-Konstellationen dargestellt: eine Frau im Arm einer anderen Frau, ein Mann und eine Frau, wie auch zwei sich küssende Männer. Alles ist normal. Das versucht die Initiative der Stadt, des Jugendbildungswerks und Pro Familia Gießen sowie Pro Familia Marburg der Öffentlichkeit zu vermitteln.“ (Gießener Anzeiger, 9.6.11) Man glaubt es kaum: Stadt und Jugendbildungswerk!
Was vor 50 Jahren undenkbar gewesen wäre, ist zur politischen Leitlinie geworden. Aber wie kam es dazu? Dazu ein paar Schlaglichter.
Da war zunächst die marxistische Sicht auf die Frauenfrage. Sie kommt im folgenden Zitat von Friedrich Engels besonders gut zum Ausdruck: „Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau… Er (der Mann, Anm.) ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ (Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates)
Klassenkampf in der Familie also. Und daher: Befreiung der Frau – auch von den mit der Zeugung verbundenen „Lasten“.
Einen weiteren Beitrag zur veränderten Sichtweise leistete Sigmund Freud, Vater der Psychoanalyse mit großem Einfluss auf das Denken des 20. Jahrhunderts. Er sah in der unterdrückten Sexualität eine wesentliche Ursache für das Auftreten von Neurosen. So wurde die Befreiung der Sexualität zum Weg der „gesunden“ Persönlichkeitsentwicklung.
Von beiden Konzepten beeinflusst entwickelte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) die „Sexualökonomie“. Er forderte die Abschaffung der „Zwangsehe“, der „Zwangsfamilie als Erziehungsapparat“, ein lustbetontes Ausleben der Sexualität und er erklärt den Orgasmus zum Gradmesser erfüllten Sexuallebens. Reichs Gedanken sind deswegen von Bedeutung, weil sie von den Proponenten der sexuellen Revolution in den sechziger Jahren aufgegriffen wurden.
Ein entscheidender Durchbruch gelang dem US-Sexualforscher Alfred Kinsey (1894-1956). Er führte eine groß angelegte Untersuchung über das Sexualverhalten der US-Amerikaner durch und veröffentlichte seine „Erkenntnisse“ in zwei Reports (1948 und 1953). Seine Schlussfolgerung: Zwischen normalen und perversen Sexualpraktiken zu unterscheiden, sei illusorisch. Warum? Weil letztere in der Bevölkerung weit verbreitet seien. Alles, was der Lust diene, sei ok. Illustrierte, Fernsehen und sonstige Medien machten sich zum bevorzugten Vehikel der „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ der seither florierenden Sexualwissenschaft. Dass Kinseys Befragungen total unrepräsentativ waren – sie wurden weit überdurchschnittlich bei Gefängnisinsassen, Prostituierten, ja sogar bei Pädophilen erhoben – fiel unter den Tisch.
Mit den Kinsey-Reports war der Erforschung des Sexualverhaltens jedenfalls Tür und Tor geöffnet. So veranstalteten etwa ab den fünfziger Jahren der Gynäkologe William Masters und die Psychologin Virginia Johnson Laboruntersuchungen, bei denen sie Menschen wie Versuchskaninchen beim Geschlechtsverkehr an Messgeräte anschlossen.
Erwähnt sei auch noch John Money (1921-2006), Vater der Gender-Ideologie. Er unterzog Bruce Reimer, dessen Glied bei einer fehlgeschlagenen Beschneidung verstümmelt worden war, einer Operation, die ihn als Mädchen erscheinen ließ. Als Mädchen wurde er auch aufgezogen. Die Entwicklung des Kindes sollte mit der des Zwillingsbruders verglichen werden und belegen, dass Geschlechtsidentität sozial bestimmt sei. Das Experiment schlug total fehl. Das Zwillingspaar endete im Selbstmord, 2004 bzw. 2006. Dennoch wurde der Fall lange Zeit als wissenschaftlicher Beleg für die Gender-Ideologie gehandelt.
Wozu dieser Rückblick? Zunächst um festzuhalten, dass der wissenschaftliche Anstrich, den sich die Sexualisierungskampagne gern gibt, keine ernstzunehmende Grundlage hat. Wenn Masters und Johnson als Ergebnis ihrer unappetitlichen „Forschungen“ zu dem Ergebnis kommen, „ dass Sex eine gesunde und natürliche Aktivität ist und als Quelle der Freude und Vertrautheit genossen werden kann,“ fragt man sich: Wozu so eine abscheuliche Entwürdigung von Menschen, um dann solche Trivialitäten zum Besten zu geben?
Ein Zweites sei festgehalten: Die meisten Proponenten der sexuellen Revolution versuchten diesen Lebensstil aus eigenem Interesse salonfähig zu machen, sind an ihm aber letztlich selbst gescheitert. Gabriele Kuby fasst dies so zusammen:
„Viele hoch gelehrte und hoch geehrte Geister haben die philosophischen und psychologischen Ideen, das kulturrevolutionäre Know how und die kulturverändernden Werke geliefert: Jean Jaques Rousseau, Marx und Engels, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und C. G. Jung, Wilhelm Reich, Alfred Kinsey, Simone de Beauvoir, Judith Butler, um nur einige Herausragende zu nennen. Viele von ihnen lebten selbst im sexuellen Chaos und zerbrochenen Beziehungen, sie vernachlässigten ihre Kinder, waren drogenabhängig, alkoholabhängig, endeten in Verzweiflung, Wahnsinn, Okkultismus, Selbstmord.“ (Vortrag am 19. März 2011: Die sexualisierte Gesellschaft)
Dass dieses Gedankengut heute längst nachweisbare negative Auswirkungen hat, belegt ein Blick in die einschlägige Statistik: Geschlechtskrankheiten, die man vor Jahrzehnten ausgestorben wähnte, nehmen zu, teils sprunghaft; Aids ist zu einer weltweiten Geißel geworden, Pornografie zu einem Massenkonsumartikel, schon unter Teenagern; die gesundheitlichen und psychischen Schäden im Gefolge jahrelangen Pillenkonsums sind ebenso nachgewiesen wie die schweren negativen Folgen, die das Auseinanderbrechen von Partnerschaften und Ehen für Kinder und Jugendliche haben…
Zuletzt noch eine Feststellung, die meist unberücksichtigt bleibt: Die sexuelle Liberalisierung entspricht dem männlichen Zugang zur Beziehung der Geschlechter. Dieser ist primär lustbetont. Die Dimension der persönlichen Begegnung tritt eher in den Hintergrund. Damit dieser Zugang nicht überhand nimmt, warnt Christus die Männer: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch begangen“ (Mt 5,28).
Männer sind nämlich visuell stark ansprechbar, Äußerlichkeiten, die „weiblichen Reize“ stimulieren leicht ihre Fantasie. Daher auch ihr weitaus größeres Interesse an sexuellen Darstellungen, die Menschen, vor allem Frauen, zu Lustobjekten degradieren. Pornographie zieht vor allem Männer an. Gleiches gilt für die Suche nach sexueller Erregung ohne jeden personalen Bezug: durch Selbstbefriedigung und bei Prostituierten, weit überwiegend Frauen, die ihren Körper als Ware zu Markte tragen. Dass diese unwürdige Tätigkeit heute als Sexarbeit bezeichnet wird, verdeckt komplett deren zerstörerische Wirkung.
Denn für Frauen ist die Dimension der Begegnung wichtig. Sie suchen vor allem Geborgenheit, Zärtlichkeit. Für sie ist Liebe und Hingabe für ein erfülltes Sexualleben von besonderer Bedeutung. Im Grunde genommen weiß das ohnedies jeder.
Die „Vermännlichung“ der Sexualisierung hat daher weitverbreitet weibliche Frustration produziert: Frigidität bei jungen Frauen infolge gescheiterter Romanzen und wachsender Flüchtigkeit der Beziehungen, Schuldgefühle wegen Unfruchtbarkeit infolge jahrelangen Pillenkonsums oder nach Abtreibungen. Untersuchungen in Schweden fanden heraus, dass bei Frauen ein markanter Zusammenhang zwischen sinkender Lust zu sexuellem Tun und der Zahl der bisherigen Sexualpartner besteht.
Der bekannte Wiener Psychotherapeut Viktor Frankl hat diese Einsicht, wie folgt; ausgedrückt: „Je mehr die Aufmerksamkeit vom Partner abgewendet und dem Sexualakt selbst zugewendet wird, umso mehr ist dieser auch schon gehandicapt.“ (Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Taschenbuch)
Fassen wir zusammen: Was heute von allen weltlichen Kanzeln gelehrt wird, nämlich, dass eine frei ausgelebte Sexualität den Menschen glücklich mache, hat sich längst als Irreführung erwiesen. Trotz aller scheinbaren Lockerheit im Umgang mit dem Thema ist der Notstand in Fragen der Sexualität groß.
Die Lehre der Kirche über den Umgang mit der Geschlechtlichkeit bietet da eine attraktive Alternative, vor allem für die Vielen, die den Verlockungen der „schönen neuen Sexwelt“ gefolgt und in ihr gescheitert sind .
Christof Gaspari