Von Gott ist uns geoffenbart, Er sei gerecht und barmherzig zugleich. Wie läßt sich beides vereinbaren? Ein Versuch, dieses letztlich unergründliche Geheimnis etwas zu erhellen.
Wir Christen bekennen von Gott, daß Er barmherzig und voll Erbarmen (Jak 3,17) ist. Ohne Zweifel ist die barmherzige Liebe die Eigenschaft, die das Wesen Gottes, wie Christus Ihn geoffenbart hat, am besten charakterisiert. Zugleich aber bekennen wir von Gott, daß Er gerecht ist. “Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig." (Ps 116,5)
Die Gerechtigkeit ist nicht weniger eine Grundeigenschaft des Wesens Gottes wie die Barmherzigkeit: “Vollkommen ist, was Gott tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade." (Dtn 32,4) Weil Gott seinem Wesen nach “gerecht und gerade" ist, kann Er das Böse nicht dulden.
Im Angesicht abscheulicher Verbrechen stellt sich uns Christen immer wieder die Frage, wie sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes zueinander verhalten. Ist unser Gott jetzt einfach der, der alles leichthin verzeiht? Oder ist Er doch ein strafender Richter? Wie ist Gott?
Um es vorwegzunehmen: Fragen nach dem inneren Wesen Gottes sind sehr kompliziert, denn Gott läßt sich nicht auf eine mathematische Formel bringen, die sich logisch darstellen läßt. Es ist daher erlaubt, zu Bildern zu greifen.
Wir finden beim heiligen Abt Bernhard von Clairvaux (1090-1153), dem großen Heiligen des Zisterzienserordens, einen Versuch, dieses Problem zu begreifen. In einer Ansprache an seine Mönche versucht er zu schildern, was sich im innersten Herzen Gottes selbst ereignet im Angesicht der Sünde des Menschen. Ja, in das Herz Gottes kommt Bewegung durch die Sünde des Menschen. Gott ist betroffen!
Der biblische Gott ist ja nicht ein Nirvana-Etwas, das an der Welt desinteressiert ist. Unser Gott ist der lebendige Gott, der auf die Menschen schaut, auf ihre Gebete hört, und sich für ihr Schicksal interessiert. Der Sündenfall Adams, über den Bernhard predigt, hat, so sagt uns der Heilige, Folgen für Gott. Es betrifft Ihn, weil Er sich von Ewigkeit her vom Schicksal Seiner Geschöpfe betreffen lassen wollte. Was tut also der Gott, der zugleich gerecht und barmherzig ist, wenn der Mensch sündigt?
Der heilige Bernhard greift hier zu einer dramatischen Schilderung, die vom höfischen Theater seiner Zeit inspiriert ist. Nach der Adamssünde ereignet sich ein regelrechtes Drama in Gott: die göttlichen Tugenden treten in den himmlischen Gemächern Gottes zu einer Ratsversammlung zusammen. Da Bernhard sich auf das Psalmwort bezieht: “Es begegnen einander Barmherzigkeit und Wahrheit; Gerechtigkeit und Friede küssen sich" (Ps 85,11), läßt er vier Tugenden auftreten: Barmherzigkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden.
Für Bernhard gilt es als ausgemacht, daß Gott nicht “schizophren" ist, daß also Seine Eigenschaften - auch wenn sie widersprüchlich erscheinen - in Wirklichkeit eins sind: Wollte die Barmherzigkeit nicht der Wahrheit begegnen, so wäre sie keine Barmherzigkeit (misericordia), sondern Erbärmlichkeit (miseria); wollte die Wahrheit nicht dem Erbarmen begegnen, so wäre sie keine Wahrheit (veritas), sondern Härte (severitas).
So beginnt eine Gerichtsverhandlung im Herzen Gottes selbst, in der zunächst die Wahrheit den Standpunkt der Gerechtigkeit mit aller Schärfe vertritt: Der Mensch, der gesündigt hat, hat den Tod verdient, denn in Gott ist kein Platz für die Sünde. Gott hat doch gesagt: “In der Stunde, da du ißt, wirst du sterben." (Gen 2,17).
Natürlich kann sich die Barmherzigkeit mit der Härte dieses Urteilsspruchs nicht abfinden, und sie beginnt mit einem eindringlichen Plädoyer für die Rettung des Sünders: Liegt nicht alles schon daran, daß der Mensch eben als solcher geschaffen worden ist: als einer, der die Freiheit hat zu sündigen? Liegt hier nicht eine Verantwortung bei dem, der den Menschen eben als solchen geschaffen hat?
Doch die Wahrheit verteidigt ihren Standpunkt: Nicht in der Schöpfung liegt der Fehler, sondern in dem, was der Mensch aus der Freiheit gemacht hat. Nicht der Schöpfer trägt die Schuld an der Sünde, sondern der Mensch selbst.
Doch die Barmherzigkeit läßt in dieser göttlichen Ratsversammlung nicht locker. Da es nun einmal so ist, daß der Mensch so geschaffen wurde, daß er in die Sünde fallen konnte und auch wirklich gefallen ist, so würde es doch der größeren Wahrheit entsprechen, wenn er gerettet wird.
Jedenfalls wogt die Diskussion zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit heftig hin und her; immer wieder verlangt die Gerechtigkeit, daß keine Sünde ungestraft bleibt. Und je heftiger der Streit wird, desto mehr steht der Friede, wie Bernhard bemerkt, ganz im Abseits!
Das Ganze scheint eine Sackgasse zu werden, in der keiner nachgeben will. Endlich kommt die überraschende Wende, indem der Sohn vortritt: Er, der ohne Sünde ist, der keiner Strafe verfallen ist, erklärt sich bereit, die Sünde auf sich zu nehmen und selbst Mensch zu werden.
Und siehe: Die Sackgasse öffnet sich, denn so behalten beide Parteien zugleich recht: Die Gerechtigkeit, weil die Sünde bestraft wird - freilich nicht am Sünder selbst, sondern die Strafe erleidet stellvertretend der Sohn. Und die Barmherzigkeit setzt sich durch, weil der dem Tod verfallene Mensch nun doch gerettet wird - freilich nicht dadurch, daß Gott billig die Sünde des Menschen wegwischt, sondern dadurch, daß der Sohn diese Sünde selbst auf sich nimmt: “Vater, wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, geschehe Dein Wille." (Mt 26,42)
Die Bereitschaft des Sohnes zum Kreuz ist also für Bernhard der Knotenpunkt, wo sich Barmherzigkeit und Wahrheit miteinander versöhnen. In dem Augenblick, wo der Sohn Seinen Entschluß zur Menschwerdung kundtut, umarmt die Gerechtigkeit den Frieden und beide küssen sich. So ist das Wort in Erfüllung gegangen: “Es begegnen einander Barmherzigkeit und Wahrheit; Gerechtigkeit und Friede küssen sich." (Ps 85,11) Die Theatervorstellung im Herzen Gottes schließt mit dem Hinweis auf die Menschwerdung Christi aus der Jungfrau Maria.
Der Autor ist Dekan der Theologischen Fakultät in Heiligenkreuz.