Nach dem 11. September betonten alle Medien die Friedfertigkeit der Muslime. Gut so. Eine Front des Hasses aufzubauen, wäre verheerend gewesen. Daher der Aufruf des Papstes zum Dialog. Muslimische Terroristen berufen sich allerdings darauf, im Namen Allahs zu handeln. Und in einigen muslimischen Ländern (Sudan, Indonesien) werden Christen verfolgt. Kann der Koran zu solchen Taten inspirieren?
Befragen wir zunächst die Quelle, den Koran, der allen Muslimen als oberste Referenz dient, ist er doch das Wort Gottes, inspiriert und in einem Buch festgehalten. Da muß man zunächst feststellen: Der Koran präsentiert sich zwiegesichtig: Manchmal mit dem Antlitz der Sanftmut, manchmal mit dem der Gewalt.
Die westlichen Muslime haben bei interreligiösen Gedächtnisfeiern für die Opfer oft jenen Vers zitiert, der eindeutig die Tötung Unschuldiger verdammt: “Wenn jemand einen Menschen tötet - es sei denn für (Mord) an einem andern oder für Gewalttat im Land -, so soll es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten. " (5,32)
Diese Stelle drückt jedoch nicht ein absolutes Tötungsverbot aus, wie wir es im Dekalog finden: “Du sollst nicht töten". Der folgende Vers sieht übrigens vor, daß “jene, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen" (also gegen den Islam) und jene, die “Unordnung im Lande zu erregen trachten" für den “Ungehorsam", “getötet oder gekreuzigt" werden. (5,33)
Diese Stelle scheint auf jene anzuwenden zu sein, die der Ausbreitung des Islam widerstehen. Der Koran zählt sie zu den “Feinden Gottes" (41, 19 und 18), während die Gefährten Mohammeds zu “Allahs Schar" (5,56) gehören. Das ist übrigens die Bezeichnung, die sich die militanten Schiiten im Libanon gegeben haben: “Hisbollah".
Um den weltweiten, von Gott zugesagten Sieg des Islam (5,56; 58, 21-22; 110, 1-2) sicherzustellen, erlaubt der Koran jedes Mittel, von der höflichen Diskussion (29,46) bis zum Krieg. Die Zeitworte “töten" (qatala) und “kämpfen" (qâtala) findet man dort 62 beziehungsweise 51 Mal - zehn beziehungsweise zwölf Mal davon in der Befehlsform.
Neben Versen, die zu einem gewissen Respekt, vor allem Christen gegenüber, einladen, predigen viele andere die Anwendung von Gewalt gegen Ungläubige und “Polytheisten", übrigens eine Bezeichnung, die auch Christen treffen kann. Sie glauben ja an den Dreifaltigen Gott.
Die bekannteste, die Schwert-Sure, befiehlt nämlich: “Kämpfet wider diejenigen aus dem Volk der Schrift, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben und die nicht als unerlaubt erachten, was Allah und sein Gesandter als unerlaubt erklärt haben, und die nicht dem wahren Bekenntnis folgen, bis sie aus freien Stücken den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen." (9,29)
Die algerische GIA hat diesen Vers an die Spitze ihres Kommuniqués gestellt, als sie sich zur Ermordung der sieben Trappisten von “Notre Dame de l'Atlas" im Mai 1996 bekannte. Die Beziehungen der islamischen Welt zu den Nicht-Muslimen stehen daher unter dem Vorzeichen des Kräftemessens. Daraus ergibt sich, daß der Islam weder die Gleichheit aller Menschen, noch die Gegenseitigkeit anerkennt.
Diese Prinzipien erklären, warum die nicht-islamischen Bürger eines Staates, der vom islamischen Recht (der Scharia) beherrscht ist, oft einen untergeordneten Status haben. Der Schutz-Status, den man ihnen zubilligt, wird allerdings von vielen Muslimen als Beweis für die Toleranz des Islam ins Treffen geführt.
Während die Christen Toleranz als die Respektierung des anderen in seiner Besonderheit ansehen, geben ihr die Muslime eine herablassende und vorübergehende Bedeutung.
Die Spaltung der Welt in zwei gegnerische Blöcke, jenen der Religion und jenen der Ungerechtigkeit und des Unglaubens, ist tief in den Anfängen des Islams verwurzelt. Sein Ursprung war von Gewalt geprägt. Der Koran und die Sunna (die Tradition) spiegeln dies getreulich wider, indem sie von der Feindseligkeit der Mitbürger Mohammeds in Mekka berichten, mit der seine Predigt zunächst konfrontiert war. Sie erzählen auch von den militärischen Auseinandersetzungen, den Beutenahmen, die Mohammed verordnete, um seine Religion den jüdischen, christlichen und heidnischen Clans von Medina aufzuzwingen. Dorthin war er ja ins Exil gegangen.
Man mußte für “die Sache Gottes kämpfen". Das ist die Bedeutung des Wortes “Djihad" (zuunrecht mit heiliger Krieg übersetzt). Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Vorstellung ist dieser Kampf im Koran selbst nur militärischer Art. Seit dem elften Jahrhundert ist er von verschiedenen Rechtsgelehrten so definiert worden (kleiner Djihad). Es waren mystische Strömungen, die ihm eine stärker spirituelle Auslegung gaben (großer Djihad), indem sie die Reinigung des menschlichen Herzens und der Gesellschaft predigten.
Der kleine Djihad ist daher keineswegs eine Abart des großen Djihad. Er behält seine Aktualität als “Verpflichtung der Gemeinschaft", dem Gesetz Gottes zum Durchbruch zu verhelfen als Antwort auf den ausdrücklichen Befehl: “Und bekämpfet sie (die Ungläubigen), bis die Verfolgung aufgehört hat und der Glauben an Allah (frei) ist." (2,193)
Dieser Kampf richtet sich nicht nur gegen Nicht-Muslime. Er kann auch die Führer der islamischen Staaten aufs Korn nehmen, wenn man sie mangelnder Frömmigkeit bezichtigt oder anklagt, mit dem verhaßten Westen unter einer Decke zu stecken. Der kleine Djihad inspiriert die Islamisten-Bewegungen, die sich gegen bestimmte Regime oder Verfassungen stellen, die nicht der Scharia entsprechen (Ägypten, Nigeria, Philippinen...). Er kann bis zum Terror führen wie einst im Iran und heute in Algerien. Das höhere Ziel des Islam rechtfertigt dann ebenso die Ermordung von Muslimen durch Muslime wie den Märtyrer-Selbstmord.
Im Koran liest man: “Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für den Garten (Paradies) erkauft: sie kämpfen für Allahs Sache, sie töten und fallen..." (9,111). Das ist wie ein Pakt zwischen Gott und dem Menschen, der - wenn man ihn wortwörtlich nimmt - jede Idee der Liebe und Gnadengabe ausschließt. Der muslimische “Märtyrer" stirbt nicht, um sein Leben hinzugeben, sondern um dem Islam zum Sieg zu verhelfen und die von Gott verheißene Belohnung zu erringen.
Die islamistische Ideologie hat sich so aus einer fundamentalistischen Lektüre des Koran herausgebildet. In ihr sind das Zeitliche und das Spirituelle unentwirrbar verknüpft. Sie leitet sehr wohl aus ihr ihre Berechtigung ab. Der Islamismus ist aber nicht notwendigerweise aggressiv. Es gibt auch das, was man einen sanften Islamismus nennen könnte. Ohne Bomben und überspannte Sprache, fast unbemerkt also, wirkt er mit nicht weniger Entschiedenheit als seine kämpferische Variante, um den umfassenden Triumph des Islam (Religion, Staat, profanes Leben) zu erwirken.
Was schließlich den großen, den spirituellen Djihad anbelangt, so wird er von jenen Muslimen praktiziert, die jeden ideologischen Zugang ablehnen oder einfach nicht kennen. Sie sind im Grund genommen die Mehrheit. Nicht voreilig der Heuchelei bezichtigen sollte man jenen muslimischen Botschafter eines arabischen Staates, der kürzlich geschrieben hat: “Ich lese den Koran und finde darin keinerlei Einladung, meinen Nächsten zu töten" (Le Figaro v. 20.9.01). Vielmehr sollte man in ihm einen ehrlichen Gläubigen sehen, der eine spirituelle Lesart seines heiligen Textes bevorzugt. Übrigens fügte er hinzu: “Mein Islam besteht aus Mitleid und nicht aus Grausamkeit."
So ist also zu sagen: Der Islamismus ist nicht der ganze Islam, aber er ist auch der Islam. Stellt man den Stolz der Muslime in Rechnung, “dem besten Volk, hervorgebracht zum Wohl der Menschheit," (Koran 3,110) anzugehören, so fällt es diesen Menschen keineswegs leicht, sich von ihren Glaubensbrüdern zu distanzieren, und seien es Terroristen, sobald diese behaupten, für die “Sache Gottes" einzutreten.
So muß also die äußerst große Zahl von Reaktionen muslimischer Würdenträger, die im Anschluß an die Attentate von New York und Washington ihre Empörung ausdrücklich artikulierten, als ein wirklicher Fortschritt bezeichnet werden.
Dieser Fortschritt bleibt jedoch prekär. Daher muß auf jeden Fall vermieden werden, daß man alle Muslime mit einem vorgefertigten, unveränderlichen Etikett, das von Haß und Fanatismus genährt ist, versieht. Überschriften wie: “Der Islam gegen die Christen" oder: “Wie machen wir Schluß mit den Wahnsinnigen Allahs?", wie sie kürzlich in Magazinen zu lesen waren, tragen dazu bei. Diese ungerechten Vereinfachungen sind nicht imstande, die noch dazu gefährlichen Probleme, die der Islam tatsächlich bereitet, zu lösen.
So präsentiert sich der Islam mit zwei Gesichtern: einem friedlichen und einem kämpferischen. Das Drama, so könnte man sagen, liegt darin, daß sowohl das eine wie auch das andere authentisch sind.
Auszug aus Famille Chrétienne 1238. Die Koran-Zitate stammen aus der Koran-Internet-Ausgabe: www.orst.edu/groups/msa/quran/index_g.html