VISION 20006/2001
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Ist der Papst denn wirklich unfehlbar?

Artikel drucken Klarstellungen zu einer nach wie vor heftig kritisierten Lehre der Katholischen Kirche (Alain Bandelier)

Das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ist für viele ein Hindernis. Immer wieder wird man in Gesprächen mit heftiger Kritik an dieser “Anmaßung" der Kirche, im Besitz der Wahrheit zu sein, konfrontiert. Daher ist es wichtig, sich dieser Frage zu stellen.

Wenn wir daran glauben, daß Gott uns in Jesus Christus die Fülle Seiner Offenbarung und Gnade geschenkt hat, und wenn wir glauben, daß Jesus Christus der Kirche die Mission übertragen hat, diesen Schatz von Generation zu Generation bis zum Ende der Welt weiterzugeben, dann müssen wir uns eben dieser Frage stellen.

Sollte der Herr das Risiko eingegangen sein, daß Seine Jünger nach einer gewissen Zeit anfangen, ein “anderes Evangelium" zu predigen, wie Paulus das nennt?

Jesus hat Seine Frohe Botschaft nicht unserer Phantasie überlassen. Er hat sie auch nicht den Zufällen der Geschichte ausgeliefert. Zugleich mit Seinem Wort gab Er uns Seinen Geist, dessen Mission es ist, uns in die ganze Wahrheit einzuführen und uns den Reichtum Christi in Erinnerung zu rufen. Genaugenommen fügt der Geist nichts hinzu, sondern Er bezeugt. Er ist Garant der lebendigen Tradition, die sowohl Erinnerung wie Vertiefung ist.

So ist die Unfehlbarkeit eine Art Gnadenstand, ein Charisma, das der Gemeinschaft des Auferstandenen ermöglicht, die Lehre der Apostel treu zu bewahren und genau weiterzugeben. Diese Gnade ist zunächst der Kirche zu eigen. Jesus hat dem Petrus zugesagt, die Mächte der Finsternis würden sie nicht überwinden.

Was allerdings das Leben der Kirche bedroht, sind nicht so sehr die äußeren Verfolgungen, die ja meistens zu einer Glaubenserneuerung führen. Gefährdet ist sie vielmehr durch die Abschwächungen und den Kuhhandel innerhalb ihrer Reihen, sowohl was die Verhaltensweisen wie die Überzeugungen anbelangt. Der besondere Beistand des Heiligen Geistes soll uns davor bewahren. Er tut sich im Volk Gottes durch einen besonderen Sinn für den Glauben (sensum fidei) kund. Dieser ermöglicht es ihm tief im Inneren zu erspüren, was mit dem Evangelium übereinstimmt und was diesem widerspricht.

Das allein aber genügt nicht, wie die Geschichte der Häresien ausreichend beweist. Mit großer Regelmäßigkeit kommt es zu Entstellungen des Glaubens innerhalb des Gottesvolkes - und sie können sehr ansteckend wirken. Typisch dafür war die Krise des Arianismus: Damals glaubte ein großer Teil der Gläubigen, ja sogar der Bischöfe nicht mehr an die Göttlichkeit Christi. In Fällen schwerwiegender Unstimmigkeiten stehen wir erneut vor der Frage: Wie soll man, wenn es zwei gegenteilige Auffassungen gibt, jene erkennen, die der Lehre der Apostel entspricht? Und wer hat in der Kirche die Autorität, diese Unterscheidung zu treffen?

Einige - und es sind nicht nur die Protestanten - meinen, daß die Bibel uns hilft, die richtige Wahl zwischen Wahr und Falsch zu treffen. Und es stimmt, daß sie uns ein entscheidendes Kriterium zur Hand gibt. Aber wie es der Schluß des vierten Evangeliums ausdrückt, ist nicht alles, was Jesus Christus getan und gesagt hat, schwarz auf weiß festgehalten. Das hebt auch das 2. Vaticanum hervor: “So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft." (Dei Verbum 9)

Andererseits antwortet die Bibel nicht unmittelbar auf alle Fragen. Am meisten verwirrend aber ist folgender Umstand: Obwohl die Christen dieselbe Bibel im selben Geist des Glaubens lesen, kommt es vor, daß sie zu unterschiedlichen Interpretationen kommen und widerstreitende Schlußfolgerungen ziehen. Wer hat dann recht?

Manche fragen sich, ob die Lösung nicht einfach darin zu suchen wäre, daß man alle Gläubigen befragt. Schließlich sei ja die ganze Kirche zur Verkündigung des Glaubens aufgerufen.

Bei manchen Diözesansynoden hat man erlebt, in welche Sackgassen diese Vorgangsweise führen kann. Sie öffnet den “pressure groups" Tür und Tor, die es verstehen, Versammlungen zu manipulieren und ihre Thesen durchzuboxen. Man geht damit auch ein Risiko ein, liefert man doch die Definition dessen, was die Kirche zu glauben und zu leben hat, den Meinungsschwankungen aus: Warum dann nicht auch über die Frage abstimmen, ob die Heilige Dreifaltigkeit aus drei oder vier Personen besteht?

Die Anglikaner waren mit einer ähnlich unbehaglichen Situation konfrontiert, als die Mehrheit ihrer Delegierten für die Ordination der Frauen gestimmt hat. Viele haben damals die Frage aufgeworfen: Können so grundsätzliche Fragen Gegenstand einer Art parlamentarischer Debatte sein? Ein ähnliches Unbehagen äußern immer häufiger die Orthodoxen innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen, sind sie doch eine Minderheit in einer Versammlung, die sich aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen artikuliert und nicht auf Einvernehmen beruht.

Alles in allem: Damit die Kirche den Glauben unfehlbar verkünden kann, braucht sie ein Dienstamt, das mit dem Charisma der Unfehlbarkeit ausgestattet ist.

Die Kirche Jesu Christi kann in ihrer Mission, das Evangelium, und zwar das ganze Evangelium und nichts als das Evangelium zu verkünden, nicht versagen. Das ist keine Garantie dafür, daß jeder Gläubige für sich genommen dies immer einwandfrei tut. Auch die Kirche in einer bestimmten Region oder zu einer bestimmten Zeit wird nicht zwangsläufig immer das best- mögliche Zeugnis ablegen. Aber es bedeutet zumindest, daß die offizielle Verkündigung der Kirche niemals im Widerspruch zum Wort Gottes sein wird.

Diese Unfehlbarkeit ist keine menschliche Eigenschaft, wissen wir doch aus Erfahrung, wie oft wir versagen. Sie ist eine Gabe des Heiligen Geistes, der Seine Kirche nie verläßt und der Garant für ihre grundsätzliche und fortdauernde Treue ist.

Wem wird diese Gabe zuteil? In der orthodoxen wie in der katholischen Tradition ist sie an die Verantwortlichkeit der Bischöfe, der Nachfolger der Apostel, gebunden. Tatsächlich hat sich Jesus ja persönlich an ihr Zeugnis gebunden: “Wer euch hört, der hört mich" (Lk 10,16). Sie sind Hirten, aber auch Lehrer.

Jeder Bischof in seiner Diözese und die Gemeinschaft der Bischöfe in der ganzen Kirche tragen die Verantwortung, Zeugen des Glaubens und Verkünder des Evangeliums im Namen des Herrn zu sein. Das schließt die Verantwortung ein, Bewahrer des Glaubens und - wenn notwendig - Verteidiger des Glaubens zu sein.

Streng genommen verfügen sie über dieses Privileg der Unfehlbarkeit nicht als einzelne. Nur als Kollegium, in Gemeinschaft mit dem Papst, üben die Bischöfe dieses Charisma aus. Im allgemeinen wird es sich in dem ausdrücken, was sie gemeinsam lehren. In feierlicher Form drückt sich dieses Privileg im ökumenischen Konzil aus, dessen Lehrentscheidungen unfehlbar sind.

Dem katholischen Glauben zufolge steht diese Gnade und dieser Dienst auch - diesmal aber als Person - dem Nachfolger Petri zu. Durch seine Wahl auf den Bischofssitz des Petrus erbt er das Charisma und die Mission des Apostelfürsten: den Glauben zu verkünden und die Brüder im Glauben zu stärken.

Das hat nichts mit Magie oder Autosuggestion zu tun. Es entspringt dem Willen Christi und Seinem Gebet: “Ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt." (Lk 22,32)

Um das auszudrücken verwendet das Lukas-Evangelium ein sehr bezeichnendes Wort: Der Glaube des Petrus wird keine “Verfinsterung" erfahren. Nur zweimal stößt man im Neuen Testament auf dieses Wort. Im selben Evangelium wird es verwendet, um auszudrücken, daß das Geld, dieses verderbliche täuschende Gut, eines Tages verschwinden wird. Das Zeugnis des Petrus, Fundament des Glaubens der Kirche, hingegen wird niemals vergehen.

Jene, die die Unfehlbarkeit des Papstes oder ganz allgemein die Vorstellung eines Lehramtes in der Kirche ablehnen, vertreten die Ansicht, daß ihnen niemand vorschreiben dürfe, was sie zu glauben haben. Unter dem Vorwand eines mündigen Glaubens oder im Namen der freien Urteilsbildung oder weil sie meinen, einen direkten Draht zum Heiligen Geist zu haben, sind sie dann ihr eigenes Lehramt. Jemand hat einmal humorvoll gemeint: Dann ist jeder unfehlbar, nur der Papst nicht!

Eines ist klar: Wenn der Papst verkündet, welches Wetter morgen sein wird, ist seine Unfehlbarkeit nicht im Spiel. In der Geschichte konnte es sogar passieren, daß ein Papst eine zweifelhafte Lehre verkündet hat. Allerdings sei festgehalten, daß er sie als seine persönliche Meinung vertrat und nicht als feierliche Verkündigung.

Das erste Vaticanum (1869-1870) hat es klargestellt: Dieses Charisma ist klar umgrenzt. Es betrifft nur die Klarstellung der für den Glauben und das Leben der Jünger Christi entscheidenden Wahrheiten. Außerdem muß die Unfehlbarkeit offenkundig in Anspruch genommen werden.

Dieses Privileg hat weder in seiner kollegialen Form für die Bischöfe, noch in seiner persönlichen für den Papst irgend etwas Unmäßiges an sich. Man muß es in der richtigen Perspektive sehen: in seiner Quelle. Es bezeugt die Treue des Auferstandenen für Seine Kirche: “Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt." Das wahre Haupt der Kirche ist weder das Konzil, noch der Papst. Es ist Jesus. Ihm können wir vertrauen.

Man muß die Unfehlbarkeit auch in ihrer Zweckbestimmung sehen. Dann ist sie viel einleuchtender und notwendig.

Es geht ja um das Heil der ganzen Kirche, die sich vom Wort Gottes nähren soll und nicht von irgendwelchen Fabeln. Und es geht um das Heil aller Menschen: Sollten sie sich mit irgendwelchen enttäuschenden oder irreführenden Annäherungen begnügen müssen, wo sie doch die Wahrheit erwarten, weder mehr noch weniger?

Aus “Famille Chrétienne" Nr 1232 und 1233.

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