Es gibt Worte, die „out“ sind, bei deren positiver Erwähnung man bestenfalls ein mitleidiges Lächeln erntet. Keuschheit ge?hört dazu. Im Folgenden ein gelungener Versuch, den Begriff aus der Mottenkiste zu holen und ins Rampenlicht zu stellen.
Gib mir Keuschheit, aber nicht sofort“, soll ein späterer Heiliger am Anfang seines Bekehrungsweges gebetet haben. Ob sein Gebet um Aufschub erhört wurde, wird nicht überliefert! Auf jeden Fall hat er mit diesem Stoß-Seufzer wohl vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen und so manche auch zum Lachen gebracht: Menschlich, allzu menschlich! Schließlich weiß jeder Mensch: Das Gebot, „Überfall keine Bank“ bedarf keiner besonderen Argumentation. Es wird auch fast lückenlos gehalten, die Keuschheit weniger; und wie man sie zu begründen hat, wissen wohl nur wenige, vor allem wenn die Begründung auch noch in der Stunde der Versuchung halten soll!
Heute fordern bestimmte Kreise eine „Reform der katholischen Sexualmoral“ und meinen dabei natürlich eine „Erleichterung“, wobei manche verlegen werden, wenn man sie fragt, was sie konkret damit meinen!
Christen, die so reden, haben ein kirchengeschichtliches Großereignis übersehen: Kein Papst vor Papst Johannes Paul II. hat so einfühlsam, so liebevoll, so revolutionär über Liebe, Sexualität und Ehe gesprochen wie er! Man kann sagen: Er hat die Antwort gegeben auf die „Sexuelle Revolution“ und eine neue, andere, wahrheitsgemäße, katholische „Sexuelle Revolution“ eingeleitet und die nächsten Generationen werden sie hoffentlich aufnehmen und durch ihr Leben vollenden! Und es ist, wie bei der Kirche üblich, ein Fortschritt, den niemand mehr umkehren kann!
Bleibt die Frage: Ist sie wirklich so „hart“, die katholische Sexualmoral, so unmenschlich wie ihr schlechter Ruf glauben machen will? Und ist „hart“ oder „weich“ überhaupt ein Begriffspaar, das „wahr“ und „irrig“ in Fragen der Moral ersetzen könnte?
Um das zu klären ein Vergleich: Wer sich zu einer Bergtour oder einer Safari aufmacht, kann sich „umsichtig“ vorbereiten oder „leichtsinnig“ auf den Weg machen. Niemand würde allerdings raten, lieber „leichtsinnig“, beispielsweise in Halbschuhen, über einen Gletscher zu wandern oder sich zu Fuß und ohne Ausrüstung in einen afrikanischen Wildpark aufzumachen. Hier ist klar, welches Verhalten „irrig“ und welches „angemessen“ ist.
Nun aber zurück zum Thema Keuschheit als Verhaltensregel im Umgang mit Liebe und Sexualität: Was ist die Keuschheit, die die Kirche lehrt wirklich? Es mag überraschen und Spott hervorrufen, aber die Antwort ist dennoch wahr: Bei der Keuschheit geht es um das „Immunsystem der Liebe“, insofern sie jene Haltung ist, die dem Menschen hilft, die Liebe ohne Verunreinigung zu leben.
Daher ist Keuschheit nicht eine Art „Dauerbremse“ für Entfaltung und Glut der Liebe, sondern ihre Verbündete, ja geradezu ihre Ermöglichung! Als Immunsystem der Liebe ist sie also in einem modernen Bild „Firewall“ und „Virenschutz“ für die Liebe und eben nicht umgekehrt ein „Hackerangriff“, der die Liebe „lahmlegt“! Im Paradies, hat Thomas von Aquin gelehrt, wäre die sexuelle Freude und Lust noch größer, noch schöner, noch glühender gewesen! Darum sollte man überhaupt nie von „Sexualmoral“ sprechen, sondern nur von „Moral der Liebe“!
Dass der liberale Zeitgeist die katholische Lehre „hart“ nennt, ist jedoch verständlich! Die Katholische Kirche ist felsenfest überzeugt: Der einzig angemessene Ort für den sexuellen Orgasmus ist die Vereinigung von Mann und Frau in der Ehe! Jeden anderen, mit Absicht eingeschlagenen Weg dazu nennt die Kirche unkeusch, also Sünde. Und zudem: Auch Blicke, Berührungen, Gedanken stehen unter dem Anspruch der Keuschheit!
Nicht geleugnet sind damit die moralischen Unterschiede, die es auch zwischen sexuellen Akten gibt, wie in allen Bereichen des menschlichen Lebens: Nicht jede sexuelle Sünde ist gleich schwerwiegend unkeusch. Das muss gesagt werden, weil es die Behauptung, jede sexuelle Sünde sei eine Todsünde, tatsächlich gab!
Für diejenigen, die an dieser Stelle versucht sind, nicht mehr weiter zu lesen, folgende Erinnerung: Alle Kulturvölker wussten um Forderungen der Keuschheit und setzten sie in gesellschaftliche Normen des „Erlaubt“ und „Unerlaubt“ um. Selbst wenn es dabei immer auch übergroße, prüde Enge und maßlos harte Strafgesetze für Übertretungen gab, rechtfertigt das nicht die jetzige sexuelle Liberalität. Angesichts der heutigen Lage heißt das: Das zu erstrebende Ideal ist weder die maßlose Prüderie von früher noch die ebenso maßlose Freizügigkeit der westlichen Gesellschaft heute, sondern die Wahrheit über das Wunder der Liebe und deren Gesetze! Den Schatz dieser Wahrheit hütet die Katholische Kirche wie keine andere Weltanschauung!
Nachdem das „harte Nein“ der Kirche benannt wurde: Worin besteht das befreiende Ja? Als Jesus die Frage nach der Scheidung gestellt wurde, antwortete er nicht mit eigenen Worten, sondern erinnerte an das Wort der Bibel. Denn dort heißt es nach dem Jubelruf des Mannes angesichts der Frau, die Gott ihm zuführte: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.“
Die Behauptung, die Kirche sei „leibfeindlich“, ist einfach unsinnig, wenn man bedenkt, dass im Anschluss daran steht: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.“ (Gen 2, 24f) Damit ist eigentlich schon alles gesagt, aber es ist gut, die ausdrückliche Unterscheidung zwischen dem Motiv der „bloßen Lust“ und „wahrer Liebe“ hinzuzunehmen, wie sie Tobias betend vor Gott bringt, bevor er seine Frau in die Arme nimmt, um mit ihr „ein Fleisch“ zu werden: „Darum, Herr, nehme ich diese meine Schwester auch nicht aus reiner Lust zur Frau, sondern aus wahrer Liebe.“ (Tob 8,7).
Denn das weiß jeder Mensch: Orgasmus ist nicht identisch mit Liebe, es gibt ihn auch in der Selbstbefriedigung, im Pornokonsum, im Bordell und nicht einmal innerhalb der Ehe ist er vor der Gefahr gefeit, mehr oder weniger ohne Liebe und von ihr distanziert stattzufinden! Das führt zur wichtigen Frage: Wodurch, unter welchen Bedingungen wird die ersehnte Einheit von Mann und Frau zum Akt der Liebe und sogar zu einem Akt der Heiligkeit (Papst Johannes Paul II.)?
Ein Bild zum Vergleich kann helfen: Das Geigensolo gelingt nur unter zwei Bedingungen: Der Geiger muss die Melodie kennen und sein Instrument beherrschen. Die Geige muss intakt sein und richtig gestimmt. Nur dann kann die Geige schluchzen und die Herzen verzaubern!
Wenden wir dieses Bild auf die wunderbare Einheit im Fleisch an: Von Seiten des „Geigers“, der Seele also, bedarf es der Liebe, die ihre Erfüllung im „Anhangen“ schon gefunden hat, und auch in der Ehe nicht erkaltet ist, sondern in der Umarmung neu entflammt! Von Seiten der „Geige“, des Leibes, gilt: Ihre Saiten spielen nur die Melodie von Ganzhingabe und Vereinigung, wenn keine verstimmt oder gar gerissen ist! Wer nun meint, man könne sich „ganz vereinigen“ und zugleich durch Verhütung „ganz getrennt“ bleiben, ist wie einer, der eine Saite der Geige abzwickt und dann erwartet, der Klang der Geige sei unverändert! Man kann auch sagen: Verhütung deaktiviert das Immunsystem, das die Liebe gegen jedes Überhandnehmen einer nicht von ihr beseelten Lust beschützt!
Das heißt: Keuschheit ist nicht ein „möglichst keine“ Lust, nicht ein „wenigstens weniger“ Lust, sondern der Keuschheit geht es um die Bewahrung jener Lust, die wirklich beglückt, weil sie Sprache der Liebe ist, die sie beseelt. Christen bemühen sich um Keuschheit, weil sie sich nach der Liebe sehnen!
Dabei wissen sie natürlich auch um ihre Gefährdung durch die Sünde wie in allen Bereichen so auch auf diesem Gebiet. Christen sind nicht überrascht, wenn sie wie alle Menschen Versuchungen spüren: Versuchungen, die als „normal“ gelten, und andere, die es nicht sind! Klar ist auch: Heilig ist nicht derjenige, der unversucht bleibt, sondern derjenige, der in der Versuchung, wie immer sie geartet sein mag, standhält und zur Umkehr bereit ist, wenn er ihr erlegen sein sollte!
Wie Versuchungen „ausschauen“, beschreibt die hl. Schrift so lebensnah, dass sich jeder Mensch mit seiner eigenen Erfahrung darin wieder finden kann: Das Buch Daniel (13,9-10) erzählt die Versuchung zweier Männer, die eine Frau verführen wollen, so: „Ihre Gedanken gerieten auf Abwege, und ihre Augen gingen in die Irre; sie sahen weder zum Himmel auf, noch dachten sie an die gerechten Strafen Gottes.“ Christen wissen: Auch ihr „Fleisch“ ist schwach und sie erinnern sich an das Wort Jesu am Ölberg: „Betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ (Mt 26,41)). Vielleicht, hoffentlich, fällt ihnen auch das Wort des hl. Philipp Neri ein, von dem das Stoßgebet überliefert ist: „Herr, pass auf Deinen Philipp auf, ich bin jederzeit imstande, dich zu verraten!“
Keuschheit ist eine Tugend, bei der es um nichts anderes geht als die Reinheit der Liebe und damit um das Glück der Menschen, weil nur die Liebe wirklich glücklich macht. Letztlich ist die Keuschheit für alle Menschen „dieselbe“, auch wenn sie natürlich und leicht verstehbar eine je andere Gestalt annimmt für Verheiratete, Unverheiratete, für noch nicht Verheiratete und solche, die „um des Himmelreiches willen“ eine andere Liebe gewählt haben. Aber letztlich gilt sie für alle Menschen gleich, auch unabhängig von dem, was man heute die „sexuelle Orientierung“ nennt.
Ein Missverständnis ist noch abzuwehren: Nicht die Kirche verbietet irgendwelche Lust, sondern die Liebe verbietet, indem sie sich schützt gegen Verunreinigung ihrer selbst und eben diese Abwehrhaltung nennt man Keuschheit.
Man kann auch sagen: Indem der Schöpfer die Liebe von Mann und Frau als Geschenk für seinen geliebten Menschen ins Dasein rief, erschuf er auch die Keuschheit – zum Schutz der Liebe!