Der Sohn einer großen, muslimischen Familie im Irak wird zum Militär einberufen. Zu seinem Missfallen teilt er dort das Zimmer mit einem Christen. Den Ungläubigen werde ich bekehren, denkt er. Also kommen beide über Glaubensfragen zu sprechen, was den Muslim zwingt, sich mit dem Islam näher zu beschäftigen. Dabei kommen ihm erstmals Zweifel über dessen Lehre. Und eines Tages hat er einen Traum:
In meinem Traum also – ich erinnere mich ganz deutlich – stehe ich am Ufer eines Baches. Er ist nicht sehr breit, gerade mal einen Meter. Am anderen Ufer steht jemand, um die vierzig, eher groß und bekleidet mit einem beigefarbenen Gewand, nach orientalischer Art aus einem Stück gewebt und ohne Kragen. Und ich fühle, wie mich irgendetwas an diesem Mann unwiderstehlich anzieht: Ich muss den Bach überqueren, um zu ihm zu gelangen.
Doch als ich durch den Bach waten will, werde ich plötzlich hochgehoben und hänge einige Minuten lang – die mir wie eine Ewigkeit vorkommen – in der Luft. Mich packt sogar ein leichtes Entsetzen, weil ich plötzlich Angst habe, nie mehr heruntergelassen zu werden… Als hätte er mein wachsendes Unbehagen gespürt, streckt der Mann gegenüber mir seine Hand entgegen, um mir über den Bach zu helfen und mich neben sich aufs feste Land zu holen. Dabei kann ich mir in aller Ruhe sein Gesicht ansehen: blaugraue Augen, ein spärlicher Bart und halblange Haare. Er ist so schön, dass es mir den Atem verschlägt.
Der Mann sieht mich mit unendlicher Zärtlichkeit an und spricht mit beruhigender und einladender Stimme einen einzigen, rätselhaften Satz: „Um den Bach zu überqueren, musst du das Brot des Lebens essen.“ (…)
Kurz darauf bringt ihm sein Zimmerkollege das Neue Testament und rät ihm, mit dem Matthäus-Evangelium zu beginnen. Der junge Muslim aber schlägt das Johannes-Evangelium auf. Und da liest er…
Im sechsten Kapitel halte ich verblüfft mitten im Satz inne. Mein Innerstes gerät in Aufruhr. Eine Sekunde lang glaube ich, eine Halluzination zu haben, und lese den letzten Satz noch einmal, Wort für Wort. Es gibt keinen Zweifel, ich habe mich nicht getäuscht… Da stehen – ein Wunder? – exakt dieselben Worte, „das Brot des Lebens“, die ich erst wenige Stunden zu vor in meinem Traum gehört habe.
Jetzt will ich es genau wissen und lese den ganzen Abschnitt noch einmal langsam und gründlich. Nachdem er für die Menschenmenge Brot vermehrt hat, wendet Jesus sich an seine Jünger und sagt zu ihnen: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern…“
In diesem Augenblick geschieht in mir etwas Außergewöhnliches, eine Art Implosion, die alles mit sich reißt, und dazu ein warmes Glücksgefühl… Als hätte schlagartig ein neues Licht mein ganzes Leben erhellt und ihm Sinn gegeben. So stelle ich mir einen Blitzschlag vor, doch es ist mehr als das!
Ich fühle mich, als wäre ich betrunken, und spüre gleichzeitig in meinem Herzen eine unerhörte Kraft, eine beinahe heftige Leidenschaft oder sogar Liebe zu diesem Jesus Christus, von dem die Evangelien erzählen.
Ein neues Leben beginnt für den jungen Muslim: Er muss sich taufen lassen, um das Brot des Lebens empfangen zu können. Dieses Streben bringt ihm Verfolgung durch seine Familie, Einkerkerung, ängstliche Ablehnung durch die christlichen Gemeinden ein. Erst viele Jahre später – er war mittlerweile nach Jordanien geflohen – findet er ein offenes Ohr für seine Bitte, getauft zu werden. Über seine Taufe berichtet er:
Mit geneigtem Kopf und bereit, vom Priester mit dem geweihten Wasser übergossen zu werden, höre ich die feierlichen Worte des Zelebranten: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes…“ Und ich denke an all die Jahre des Wartens und Leidens, an die Augenblicke, da ich mein letztes Stündlein gekommen glaubte, an diese ganze Zeit, in der ich nur ein einziges Ziel gekannt habe: lange genug zu leben um diesen Moment hier zu erleben. (…)
Einige Stunden später liest (der Priester) die Messe, und aus seinen Händen empfange und koste ich zum ersten Mal das „Brot des Lebens“… Für mich beginnt heute ein neuer Lebensabschnitt. Endlich kann ich jenem Mann antworten, der mich damals, in jener Vision, die mir noch heute vor Augen steht, zu sich gerufen hat. Dieser Mann, dessen strahlende Güte mich so sehr angezogen hat, dieser Christus, für den ich vom ersten Augenblick an eine echte Leidenschaft empfand, ist mir seit damals Tag für Tag ein geliebter Freund gewesen. Selbst in den schwärzesten Stunden war ich nicht einmal einen kurzen Augenblick lang versucht, ihn zu verlassen, um zu dem goldenen Leben von einst zurückzukehren.
Und jetzt kann ich von seinem Leben kosten, von der Ewigkeit, die der Sohn Gottes mir verheißt. Wenn ich kann, will ich jeden Tag an diesem Brot der Engel teilhaben, meine Kraft und meine Freude daraus ziehen, sogar mehrmals am Tag, wenn die Kirche es erlaubt…
Nach der Messe erfüllt mich eine ungewohnte Zuversicht, als ob die Taufe und die Kommunion einen neuen Menschen aus mir gemacht hätten. Wie ein Krieger, der in die Schlacht eilt, vergesse ich meine Situation und das christenfeindliche Umfeld und würde am liebsten herumspringen und meine überbordende Freude mit allen Menschen teilen. Prosaischer gesprochen gibt diese Freude mir die Kraft, an diesem Abend meine, wie ich glaube, letzte Zigarette auszutreten. Ein Erfolg, der mich ziemlich stolz macht, wenn man bedenkt, dass ich sehr jung angefangen habe zu rauschen…
Auszüge aus: Das Todesurteil – Als ich Christ wurde im Irak. Von Joseph Fadelle. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2011