Der menschliche Leib sei kein Beiwerk des Geistes, kein Spielzeug, um Spaß zu haben, meint der Jugend- und Familienseelsorger Denis Sonet. Weil mein Leib ich selber bin, sei es wichtig, sorgsam mit diesem Meisterwerk der Schöpfung umzugehen.
Hat der Mensch nicht schon seit der Ursünde Probleme mit seinem Leib?
P. Denis Sonet: In Harmonie mit seinem Körper zu leben, ihm den richtigen Stellenwert beizumessen, ist tatsächlich eine heikle Sache. Oft geschieht es, dass jemand seinen Leib ganz missachtet oder aber ihn vergötzt. Der Leib des Menschen ist jedenfalls das Meisterwerk der Schöpfung (…). Ab und zu vertiefe ich mich in ein Biologiebuch: Jedes Mal staune ich über die Präzision, die Perfektion der Organe: das Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, seinen Abermilliarden Nervenverbindungen; das Auge, das täglich 800.000 Fotos aufzunehmen und im Gedächtnis zu speichern vermag; das Herz, diese Pumpe, die 12.000 Liter Blut im Tag ansaugt und ausstößt… Was die Natur – und durch sie der Schöpfer – in der Evolution als Größtes hervorgebracht hat, ist der Mann, die Frau: nicht nur, was ihren Geist und ihr Herz, sondern auch was ihren Leib anbelangt.
Und dieser Leib – ist er integrierender Bestandteil des Abenteuers, das Liebe heißt?
P. Sonet: Ja. Er ist kein Instrument, kein Arbeitsgerät, kein Kleidungsstück, das man wechselt, ein Spielzeug, um Spaß zu haben oder ein Beiwerk des Geistes. Mein Leib – das bin ich! Wenn ich meinen Leib hingebe, gebe ich mich selbst hin. Er ist kein Übergangskleid in einer Folge von Reinkarnationen, keine vorgefertigte Hülle: Leib und Seele prägen einander gegenseitig. Den Leib berühren, heißt die Person berühren. Daher ist es keineswegs harmlos, ihn zu manipulieren, zu quälen, durch Arbeit auszubeuten, ihn mit Alkohol oder Drogen zu ruinieren, ihn in einer sexuellen Beziehung hinzugeben, ihn zu prostituieren, ihm eine Abtreibung zuzumuten… Der Mensch kann seinen Körper nicht einsetzen, ohne dass dies seine ganze Person betrifft. Auch muss der Leib bestrebt sein, dieselbe Sprache wie das Herz zu sprechen, wie die ganze Person. Seinen Leib ohne das Herz hinzugeben, heißt einen unbewohnten Körper zu geben. Im Grunde genommen heißt das, die Hingabe zu verleugnen. Einen Leib zu nehmen, ohne das Herz anzunehmen, bedeutet, die Person abzulehnen oder sie auf einen Gegenstand zu reduzieren.
Der Leib sei der kürzeste Weg von einer Seele zur anderen, hat Morvan Lebesque gesagt…
P. Sonet: Der Leib setzt uns nicht nur mit dem Universum in Beziehung, mit dem Kosmos, sondern auch mit den Mitmenschen. Er ermöglicht es einem Mann und einer Frau, ihre Liebe real auszudrücken, die tiefe Gemeinschaft ihrer Herzen und ihres Geistes mitzuteilen. Aus dieser Sicht ist der Sexualakt nicht so sehr die spontane Umsetzung des Sexualtriebs, als vielmehr der natürlichste Wunsch zweier Herzen ineinander aufzugehen.
Der Leib aber hat Antriebe, die weder Herz noch Vernunft regieren – Begrenzungen, Widerstände, Eigenmächtigkeiten…
P. Sonet: Der Leib kann für das Herz wie ein Schirm wirken: wie ein Bildschirm, der das Herz offenbart, aber auch wie ein Paravent, der es verbirgt. (…) Dieselbe Geste kann Weihe oder Schändung sein, Kommunion oder Ablehnung, Förderung oder Entwürdigung. Sie kann ausdrücken: „Ich schenke mich dir“ aber auch „ich benutze dich“, „ich liebe dich“ aber auch „ich vernasche dich“, „ich zeuge ein Kind“ aber auch „ich will Spaß haben“! Der Leib muss lernen, dieselbe Sprache wie das Herz zu sprechen. Der Flirt, die Anmache, bei denen man so tut, als würde man lieben, wo Blicke und Gesten aber lügen, weil sie mehr vorgaukeln, als den wirklichen Gefühlen entspricht, werden der Wahrhaftigkeit des Leibes nicht gerecht. Ähnlich ist es bei einem aufreizend aufgemachten Mädchen, das mehr verspricht, als es zu halten bereit ist. Das Wichtigste ist, dass man den Blick auf den anderen nicht auf dessen Körper beschränkt, sondern auf die gesamte Person richtet. Es ist ein männlicher Zugang, Mädchen auf Äußerlichkeiten zu verkürzen: Beine, Busen, Gesicht… An der Frau nur den Körper zu sehen, heißt, sie auf das zu reduzieren, was sie mit allen gemeinsam hat. Dabei wird das Wesentliche außer Acht gelassen: Was sie als besonderer Mensch ist.
Einschlägige Zeitschriften und erotische Filme im Fernsehen nehmen überhand. Verliert man da nicht leicht den Sinn und den Ernst der Sprache der Liebe aus dem Blick?
P. Sonet: Ja. Ich sage den jungen Leuten: Schaut euch die Schachspieler an. Welche Vorsicht bei jedem Zug mit einem Bauern! Der Spieler nimmt sich Zeit, bevor er zieht, er hält inne, bevor er sich entscheidet, bedenkt die Folgen seiner Entscheidung für die Fortsetzung des Spiels. Er hat gelernt, seine Ungeduld zu zähmen. Aus Erfahrung weiß er, dass der verliert, der seiner ersten Eingebung folgt. Vor allem aber weiß er: Sobald er gezogen hat, ist die Partie nicht mehr wie vor dem Zug, sie nimmt ihren Lauf in eine Richtung, die man nicht mehr rückgängig machen kann. Genauso verhält es sich mit den Gesten der Liebe: Es zahlt sich aus, sie mit größter Vorsicht einzusetzen, denn sie schaffen eine neue Situation, eine beinahe unumkehrbare.
Unumkehrbar – übertreiben Sie da nicht etwas?
P. Sonet: Man vergisst – oder will es eben nicht sehen –, dass jede Geste eine Beziehung verändern kann, und zwar gravierend. Wer sein Verlangen verwirklicht, also zur Handlung schreitet, eine Liebesgeste setzt, der ändert zwangsläufig etwas an der Beziehung. Von Blicken zu unverfänglichen Liebkosungen, von Zärtlichkeit zu Küssen, vom Kuss zum Geschlechtsakt – da wird jedes Mal eine Stufe erklommen. Meist ist es praktisch unmöglich auf die vorherige Stufe zurück zu steigen, vielmehr lädt jede ein, einen Schritt weiter zu gehen.
Wollen Sie damit sagen, dass eine Umarmung automatisch zu einem Sexualakt führt. Liegt da nicht doch einiges dazwischen?
P. Sonet: Ein Weg kann sehr, sehr schnell zurückgelegt werden: wie im Toboggan. Ein Bursch, der Mädchen küsst, ohne mehr zu wollen, den gibt es nicht. Oder er ist nicht normal. Dann ist der Bursch aber durch den Kuss entflammt, das Mädchen in Versuchung, sich aufzugeben. Ich vergesse nie, was mir Jean-Claude, ein 18-Jähriger erzählt hat: „Ich habe erkannt – jedoch zu spät –, dass es nur ein kleiner Schritt sein kann vom Kuss zum Sexual?akt. Auf dem Fließband der Liebe passiert es rasch, dass man Etappen auslässt und so das Staunen einer schrittweisen Entdeckung des anderen verabsäumt.“
(…)
Man sagt oft, die Kirche sei eine Spaßverderberin.
P. Sonet: Falsch, grundfalsch. Die Kirche wendet sich gegen das triviale Vergnügen, das irgendwie zustande kommt und das einen selbst und den anderen ruiniert. Sie sagt ja zur Lust, aber zu einer Lust mit Qualität, die durch Zärtlichkeit, Zartheit, Respekt verzehnfacht wird; ja zur Freude, die Frucht der gegenseitig geschenkten und empfangenen Liebe ist; ja zur Freude, die vor allem im Freudemachen besteht, die nur Sinn macht, wenn man sie teilt.
(…)
Ein hohes Ideal, schwer, heute zu verwirklichen?
P. Sonet: Ja, aber wir dürfen schon daran glauben, dass es heute junge Leute mit Persönlichkeit gibt, die nicht alles mitmachen, die erkennen, dass man durch Geschlechtsbeziehungen nicht schon erwachsen ist, die sich nicht für anormal halten, wenn sie keine sexuellen Beziehungen haben. Sie nehmen die Herausforderung an, von der Papst Johannes Paul II. gesprochen hat, Meister der Selbstbeherrschung zu sein. Voreheliche Beziehungen zu vermeiden ist eine Herausforderung, den Modeerscheinungen unserer Zeit zu entsagen. Es zeugt von persönlicher Größe.
Das Gespräch führte Luc Adrian für „Famille Chrétienne“ v. 15.9.94.