Wie immer, wenn ein Portrait geschrieben werden soll, gibt es auch diesmal Schwierigkeiten: Bei der Anreise nach Thüringen, wo ich Dario Pizzano interviewen möchte, sind es Schneegestöber, nicht funktionierendes Navi, Umleitungen… Knapp vor einem Nervenversagen kommen mein Mann und ich endlich bei der „Weißen Mühle“ in Bernterode im Eichsfeld an. Es ist eine katholische Enklave in Thüringen, die einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Revolution Ende der 80er Jahre geleistet hat.
Damals hat der Glaube jedoch in Dario Pizzanos Leben keine Rolle gespielt. Da gab es wohl die Taufe, dann die Erstkommunion. Sie wurde von der Familie aber eher absolviert als gefeiert. Wer hätte da gedacht, dass Dario einmal mit großer Freude das Rahmenprogramm für den Besuch eines Papstes organisieren würde? Denn erst 2005, als Benedikt XVI. zum Papst gewählt wird, findet Dario zu Christus – wenn auch einige Monate später. Daher hat ihn die Papstwahl ungefähr so interessiert, „wie den Fußballer das Frauenballett, nämlich gar nicht,“ erklärt er mir. Die Kirche war bis dahin für ihn „der Inbegriff für Intoleranz, Frauenfeindlichkeit und Alter-Oma-Mentalität.“
Nun aber der Reihe nach: Im Landgasthof begrüßen uns, meinen Mann und mich, Dario und die Hausfrau so herzlich, dass unsere Nerven wieder zur Ruhe kommen. Kurz darauf sitzen wir beisammen und Dario erzählt: Er sei 1974 in Göttingen in Niedersachsen geboren. Er ist gerade drei, da wird die Ehe der jungen Eltern geschieden. Mit der Mutter zieht er ins Eichsfeld. Noch weiß der Bub nicht, dass weitere Umzüge und zwei weitere „Väter“ folgen werden. In der Wahl ihrer Ehemänner scheint die Mutter kein Glück zu haben.
Darios erster, suchtkranker Stiefvater – vor dem er mit seinen kleinen Fäusten öfter die Mutter zu beschützen versucht – wird eines Tages von der Polizei abgeholt. Ein traumatisches Ereignis auch für die kleine Halbschwester. Überhaupt bestimmen Streit, Gewalt, Alkohol und Drogen über Jahre hinweg den Alltag des Buben: schreckliche Stunden, die dem jungen Mann in Erinnerung bleiben. Dabei hätte sich der Bub, wie alle Kinder, Geborgenheit und Liebe gewünscht, Eltern die ihm sagen, dass sie ihn nie verlassen werden. Gegen alle mediale Beschwichtigungsversuche, die Patchwork-Familien zum normalen, modernen, Kindern zumutbaren Umfeld erklären, vertritt Pizzano bei Vorträgen entschieden die Meinung: Kinder, die in Patchwork-Familien mit all diesen Problemen leben müssen, werden meist um ihr Leben betrogen.
Geborgenheit und Ruhe gibt es damals für den Buben nur in den wenigen Ferientagen im Sommer bei den italienischen Großeltern in der Nähe von Neapel oder bei den Eltern der Mutter. Da ist es friedlich, gibt es Wärme, da wird er umsorgt und behütet. Als Dario – er ist gerade neun – vom Tod des Großvaters Karl erfährt, mit dem er vor ein paar Tagen noch gelacht hatte, bricht für ihn eine (heile) Welt zusammen. Ab diesem Moment entwickelt er eine panische Angst vor dem Tod.
Beim dritten Ehemann der Mutter hält er es dann nicht mehr aus und verlässt mit gerade 13 Jahren und einem Koffer (der ihn bis heute mit allen Erinnerungen begleitet) das Haus. Er flüchtet zu seinem leiblichen Vater, einem charmanten Italiener, den er restlos bewundert und der Besitzer einer Pizzeria in der Stadt ist. Dort bekommt er eine Wohnung über der Gaststätte. Die neuen Schulkollegen beneiden ihn um seine sturmfreie Bude. Was es aber bedeutet, wenn ein 13-Jähriger auf sich selbst gestellt lebt – der Vater ist sehr beschäftigt und hat keine Zeit –, kann sich jeder ausmalen: Bald fließt der Alkohol, die Bude dröhnt von Rock-Musik, qualmt vom Zigarettenrauch. Mit einem Wort: urcool. Der Teenager läuft wie sein Idol, ein Bandleader, herum: zerrissene Jeans, wirres Haar, Schmuddellook.
Nachmittags hilft Dario in der Pizzeria aus, bekommt dafür Taschengeld. Am Wochenende vergnügen sich Burschen und Mädchen in seinem „Abenteuerspielplatz“, so lange es Spaß macht. Gott sei Dank gibt es da wenigstens noch das Fußballspiel. Dario wird es bis in den Kader der Landesliga schaffen, bis Alkohol und Drogen den Sieg über den Sport davontragen. Bald gibt es keine Hemmungen mehr, Alkoholvergiftung eingeplant. Nachts ist er immer öfter auf der Straße. Prügeleien mit anderen Teenies, oft auch Besuch in Spielhallen. Der Vater weiß von all dem nichts, wird mit kleinen und größeren Lügen beschwichtigt, rastet aber angesichts des Ohrrings, den der Bub trägt, völlig aus.
Zunächst ist er noch ein guter Schüler, Klassensprecher, Reporter der Schülerzeitung. Doch eines Tages, er ist 15, heißt es: 320 Fehlstunden in der Schule – zu viele Partys und Discobesuche. Er muss die Klasse wiederholen.
Aber da ist niemand, der etwas von der schrecklichen inneren Leere des Buben ahnt, von seinen nächtlichen, panischen Ängsten vor dem Tod. Beziehungen zu Mädchen und erster Sex ändern auch nichts daran. Dario ist zwar verliebt, aber nicht treu. Alles ist oberflächlich, es lenkt aber ab und hilft ein wenig gegen seinen Horror vor dem Alleinsein. Seine Verletzlichkeit versteckt er hinter der: „Mir geht’s super“-Maske.
Nach Beendigung der Schule absolviert Dario eine dreijährige Ausbildung. Er wird gelernter Industriekaufmann. Von den Eltern wird das kaum wahrgenommen.
Neben Alkohol gibt es nun auch Haschisch und Mädchen spielen eine immer größere Rolle: Je näher seinem Bett, desto lieber sind sie ihm: „Irgendwie schien ich für die Mütter halbwüchsiger Töchter die Seuche zu haben,“ erinnert er sich. Man kann es den besorgten Müttern nicht verübeln, denke ich. Auf Darios einem Oberarm prangt ein Tattou, ein Indianer, Symbol für die Freiheit. Andere Tätowierungen werden folgen. Abends kann er nicht mehr ohne Alkohol einschlafen, um nicht nachdenken zu müssen.
Der junge Pizzano übernimmt die Leitung eines Music-Pubs in der Stadt. Sein Job beginnt am Abend und endet in der Früh. Da er ja Schlafprobleme hat, ist ihm das nur recht. Der Laden läuft gut. Mittlerweile aber hat der junge Manager das Kokain entdeckt. Es soll ihn leistungsfähiger und selbstbewusster machen. Von da an arbeitet er „drogenbefeuert und völlig größenwahnsinnig,“ wie er zugibt. Er organisiert immer tollere und wildere Disco-Partys, wofür ihn die Mädchen bewundern. Den Chef freut der Umsatz, auch wenn der junge Manager fast keinen Tag mehr nüchtern ist und immer mehr von den Drogen braucht.
Nächte und Tage hindurch schläft er fast gar nicht, liegt aber zitternd im Bett, meint durchzudrehen. Er weiß noch nicht, dass „Süchte Krankheiten sind, schleichende Hilfeschreie der Seele,“ wie er es in seinem Buch eXzess Meine zwei Leben beschreibt: „Es war so schrecklich kalt und tot in mir.“ Andere finden ihn aber cool, bewundern seine Freiheit. Dabei „war ich der Unfreieste der Unfreien, ein Getriebener, Gehetzter, eine Marionette meiner Gier…“.
Die Frau, mit der er gerade zusammenlebt, bekommt ein Baby, einen Sohn, Giuliano. Dario liebt ihn vom ersten Tag an, doch der Drogenkonsum, die Versuchungen der Damenwelt, denen er ständig erliegt, haben ein Jahr später die Trennung des Paares zur Folge. Dem jungen Vater wird verzweifelt klar, dass er seinem Sohn nun dasselbe Schicksal beschert, das er selbst erlebt hat. Also noch mehr Drogen, um nicht denken zu müssen: Ecstasy, LSD und Opium…
Als ihn die Nachricht des Todes seiner Großmutter Marga erreicht, das „Zuhause“ seiner Kindheit, ist er körperlich am Ende, vom Fußball schon lang keine Rede mehr. Er ist total von Alkohol und Amphetaminen abhängig. Die Polizei verhört ihn nach einer Hausdurchsuchung stundenlang. Wegen Drogenkonsums ist der Führerschein für ein Jahr weg.
Bei der folgenden Silvesterfete ist er so nüchtern, wie schon lange nicht. Es fällt ihm auf, wie eklig und unecht dieses „Feiern“ ist. Zu Hause wirft er das ganze weiße Pulver weg. Eine Freundin bietet ihm an, ihm bei einem „kalten Entzug“ zu helfen. Er nimmt an und „durchschreitet in der nächsten Zeit die Vorhöllen der Hölle“ – vier Wochen lang. Dann kündigt er seinen Job… Die nächste Arbeit bietet ihm sein Vater an: Er soll sich um sein Billardcafé kümmern, das nicht so gut geht. Dario freut sich. Jetzt kann er dem Vater beweisen, was in ihm steckt: Das Café bekommt eine neue Technik, eine neue Ausstrahlung und einen neuen Namen: Eventcafé Ambiente. Dario organisiert jede Menge Events.
Das Lokal boomt. Also wird ausgebaut.. Dario hat alle Hände voll zu tun: planen, organisieren, Musik auflegen, bedienen. Obwohl die Leute bald von überallher kommen, um die Events zu erleben, er weniger raucht, weniger trinkt, keine Drogen konsumiert, nimmt die panische Angst vor dem Tod sowie Depressionen immer stärker von ihm Besitz.
Seine neue Freundin wird schwanger, bekommt eine Tochter. Trotz seiner inneren Leere findet er sein Baby, Emily, wundervoll. Doch ein Jahr später sind Mutter und Tochter über alle Berge, denn der junge Vater hatte nur gearbeitet und sich kaum zu Hause sehen lassen.
Wieder ist er allein. Kann er niemanden halten? Schuldgefühle kommen hoch. Die Anerkennung des Vaters würde ihm helfen, es gibt sie aber so gut wie nie. Zu den Gästen im Lokal hat er ein gutes Verhältnis: Er hat zuhören gelernt, ist mit menschlichen Abgründen und Abstürzen vertraut. Immer mehr bemüht er sich, den Gästen Freude zu bereiten. Das macht Sinn und bringt Anerkennung. Er gibt das Rauchen auf, hat weniger Frauengeschichten. Kaum ist er aber allein zu Hause, ist er todunglücklich.
Als sein Großvater, Nonno Mario, in Italien nach einem Schlaganfall stirbt, verzweifelt Dario am Sinn des Lebens, an der Hoffnungslosigkeit, der Todesangst, an seiner Sucht nach Liebe. „Absolute Verzweiflung, Leere, Aufgabe meiner Selbst, kein logisches Denken oder dem Gewissen folgen können, einfach eine seelische Bankrotterklärung habe ich empfunden,“ schildert er die damalige Situation. „Wieso denkt niemand daran, wie oberflächlich wir leben? Mir wurde auch klar, dass ich mich an den Biografien anderer Menschen schuldig gemacht hatte. Den Kindern konnte ich kein Vater sein…“ Er hält das alles nicht mehr aus, denkt daran, dieses sinnlose Leben zu beenden.
Am 28. November 2005 ist Dario im Auto unterwegs. Überwältigt von den negativen Gedanken spricht er vor sich hin: „Mein Gott, ich kann nicht mehr.“ In diesem Moment, da er absolut am Ende ist und Ihn zu Hilfe ruft, kann Gott eingreifen: Plötzlich macht Dario die unfassbare geistige Erfahrung totalen Angenommenseins: „Liebe, Glück, Freude, ein totales bei mir Sein, wie ich es nie vorher empfunden hatte. Wie im Alten Testament: ,Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.’ Ich habe gespürt: Ich selbst bin gemeint, ich Dario, so wie ich bin, mit all meinen Fehlern, meinen Schwächen, meiner Vergangenheit!“
20 oder 30 Minuten steht er am Straßenrand und weint sein ganzes Leben heraus und erkennt: Da ist jemand der mich liebt, der mich kennt, mich anschaut und anspricht, der da ist: Er hört eine innere Stimme: „Es ist nicht, wie du denkst. Ich bin dein Vater.“ Diese Liebe, diese Freude, diese personale Wirklichkeit außerhalb dessen, was er bis dahin als Wirklichkeit wahrgenommen hatte, all das soll nie wieder weggehen, ist sein inniger Wunsch. „Ich erkannte: Das ist nicht von dieser Welt, es ist wohl das, was andere Gott nennen. Was ich noch nicht wusste, ist die Verbindung Gottvater und Jesus Christus.“ Das offenbart ihm wenig später ein Priester, dem er ”zufällig” begegnet: „Wenn du Gott begegnet bist, so bist du Jesus begegnet, der sozusagen Seine irdische Hausadresse ist,“ erklärt ihm dieser.
Noch in der selben Nacht schickt Dario dem Priester ein Mail und schreibt sich sein ganzes Leben von der Seele. Von diesem Priester bekommt er auch seine erste Bibel. Nach wie vor tief berührt, erzählt er: „Als ich die Bibel aufgeschlagen habe, war es als stünde Er mit mir im selben Raum, und sagt mir: ,Komm her zu mir, der du mit Mühsal beladen bist’ – mit der selben Stimme wie im Auto. Und ich wußte: Das ist Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.“
Trotz dieser Freude gerät sein Leben in der nächsten Zeit irgendwie aus den Fugen: Er wird sich bewusst, dass er mit seiner Partnerin nicht so zusammenleben kann, als wären sie verheiratet. Und sie wiederum versteht ihn nicht: zuerst die Krisen, Depressionen und nun gibt es nur mehrden lieben Gott. Schließlich verlässt sie ihn.
Für seinen Job als „Event-Zampano“ bringt er wenig Energie auf, er erscheint ihm plötzlich sinnlos. Sein Vater, dem er das zu erklären versucht, versteht kein Wort, will es vielleicht auch gar nicht verstehen. Die Änderung bedroht ja seine Pläne. „Was ist da los?“ denkt Dario: Jesus zerstört scheinbar alles: seine Beziehung, seine Familie, seinen Job.
Angesichts dieser Pleiten hätte Dario nun sagen können: Vielleicht habe ich mich getäuscht Sollte ich den 28. November nicht lieber aus meinem Gedächtnis streichen und alles so belassen wie vorher? Stattdessen besorgt er sich Bücher: über den heiligen Franziskus, Don Bosco, von C.S.Lewis und andere. Er will herausfinden, was mit ihm geschehen ist, er spricht mit mehreren Priestern. Und dennoch ein Nervenzusammenbruch. Der Priester rät ihm sich für ein paar Tage in ein Kloster zurückzuziehen. Dort in der Kapelle fühlt er sich wohl, kniet nieder. Das klappt zwar noch nicht so recht, da er noch „keine Hornhaut an den katholischen Stellen“ hat, wie er humorvoll feststellt. Aber es ist dort ruhig und friedlich. Er betet viel, bekommt Antwort auf offene Fragen, erkennt, welchen Weg er einschlagen soll. Ab nun will er Jesus das Steuer seines Schiffes überlassen. Er beginnt ein Fernstudium der Theologie. In den Eventkalender des Lokals setzt er einen „Philosophischen Gesprächskreis“: Da gibt es Vorträge des Priesters, es wird über Sinnfragen debattiert, das eigene Leben beleuchtet… Das ergibt Sinn ebenso wie seine Besuche im Altersheim: plaudern, zuhören, mit den alten Leuten spazieren gehen. Der Tod hat keinen Stachel mehr; ER wird ja da sein um ihn aufzufangen
Eine große Bitte hat Dario: Er möchte seinen neuen Weg nicht allein gehen müssen. Gott möge ihm jemanden schicken, der ihn unterstützt und begleitet. Er sehnt sich nach einer christlichen Ehe. Aber wird er überhaupt je wirklich lieben können nach all den Verirrungen auf diesem Gebiet?
Bei der Hochzeit von Freunden trägt er Gott diese Bitte ganz konkret vor – aber wie Gott will, soll es geschehen, beschließt er sein Gebet. Dabei lauscht er mit geschlossenen Augen dem Gesang und Gitarrespiel einer jungen Frau. Eine Stimme wie ein Engel… Freude, Glück und Liebe durchströmen ihn. Bei der anschließenden Feier geht er zu der jungen Frau und gesteht ihr, wie sehr ihr Gesang ihn berührt habe. Uta schaut ihn an – und da ist es um ihn geschehen. Gab es da auch bei ihr einen emotionalen Bergrutsch? Jedenfalls werden die Beiden in dem geschichtsträchtigen, romantischen Gasthof, wo diese Begegnung stattfand, später ihre Hochzeit feiern: am 14. August 2010. Seit 24. August 2011 haben die Beiden einen Sohn.
Hier findet jetzt auch unser Interview statt. Es hätte keinen besseren Rahmen geben können! Hier werden wir während unseres Aufenthaltes übrigens auch liebevoll von Darios Mutter betreut. Mit ihr – sie ist mittlerweile in die Nähe ihrer Kinder gezogen – verstehe ich mich auf Anhieb gut.
Nach ihrer ersten Begegnung vergehen aber noch ein paar Jahre bis zur Hochzeit. Eine Zeit in der Dario sich endgültig von seinem Leben, in dem er als Geschäftsführer von zwei Lokalen, als Veranstalter hunderter Events, Konzerte und Disco-Parties mehrere hunderttausend Euro Umsatz gemacht hatte. Nun möchte er für den Chef arbeiten, der ihm die Augen eines Kindes geschenkt hat um all Seine Wunder erkennen zu können. Er sieht nun „alles in einem neuen Licht:Werte und Haltungen, über die ich früher ironisch herzog, leuchten plötzlich: Ehrlichkeit, Treue, Liebe, Gerechtigkeit, Vergebung. “
Dass so ein radikaler Richtungswechsel Zeit braucht und nicht ohne Rückschläge vonstatten geht, überrascht nicht: Neun Monate später erleidet er einen „Seeleninfarkt“. Heute sieht Dario das so: „Zuerst war da eine euphorische Spiritualität: Nur mehr bei Jesus sein, mich von der Welt abwenden. Eine Verzückung gewissermaßen. Bei Lukas lesen wir jedoch von der Heilung des von Dämonen Besessenen: Er möchte auch beim Herrn bleiben, doch Jesus schickt in ins Dorf . Er soll allen erzählen, was Er ihm getan hat. Du hast Vergebung für deine Schandtaten bekommen. Deine Bekehrung muss fruchtbar werden. Also zurück in die Welt.“
Zuerst aber: Vergebung und Versöhnung. Und so muss Dario vergeben lernen, nachdem ihm selbst von Gott so viel vergeben worden war. „ Jeder ist Opfer und Täter in einem, gibt nur das weiter was er empfangen hat.“ Er schreibt Briefe, entschuldigt sich, bittet um Vergebung und vergibt seinerseits. Eine schwere Zeit…
In diesen Monaten zieht er sich ganz zurück, schreibt sein persönliches „Psycho-Tagebuch“, das später als Buch veröffentlicht wird. Seinen Kindern, Guiliano und Emily, ist er so weit wie nur möglich ein fürsorglicher Vater geworden. Das Verhältnis zu deren Müttern ist sehr gut. Er liest viel, beendet sein Theologiestudium und beginnt ab August 2009 im Bereich der Erwachsenenbildung im Bistum Erfurt zu arbeiten: Hält Vorträge und Lesungen in Gemeinden, Bildungshäusern, Schulen und Gefängnissen, moderiert Podiumsdiskussionen.
Sein Anliegen: Den Menschen nahezubringen, welch wunderbares Geschenk der Glaube ist. „Es ist das, was ich stets entbehrte: Menschen zu erleben, die Glauben ausstrahlen, über ihren Glauben sprechen, freudig über das berichten, was Gott in ihrem Leben bewirkt hat – die erlöst wirken.“
Jetzt weiß ich, was an Dario Pizzano auffällt: Er wirkt erlöst, strahlt eine dynamische Freude aus. Darum hört man ihm gern zu. Er wirkt authentisch, unglaublich überzeugend. Nimmt sich gerne Zeit für die Menschen. Kommt etwa jemand in sein Büro und meint, Dario hätte jetzt wohl keine Zeit, dann bekommt er zu hören (spielt es uns lebendig vor): „Hallo?! Natürlich habe ich Zeit, dazu ist die Kirche ja da, um Menschen zu dienen.“
Warum ist das Katholische wichtig?, frage ich etwas provokant. Er zögert nicht lange: „Sehr schnell waren für mich die Sakramente entscheidend. Das tiefe Bedürfnis nach der Beichte: 1,5 Stunden hat die erste Beichte gedauert, eine unglaubliche Erfahrung: zu wissen, zu spüren, das ist jetzt wirklich alles richtig weg. Ich weiß noch, wie ich zum Priester gesagt habe: ,Ich will endlich aufhören mich und andere Menschen zu belügen.’ Und dann die Eucharistie: Die ersten Male ging das nur unter Tränen. Ich habe das alles so tief verstanden., wusste einfach: Das ist alles wahr.“
Auffallend die Liebe, mit der er über den Papst spricht: „Wenn sich jemand nicht entsprechend über den Herrn äußert, tut mir das körperlich weh. Ähnlich geht es mir mit dem Heiligen Vater, weil ich weiß, wer ihn da hingestellt hat, wessen Stimme da spricht: die Stimme des Herrn persönlich. Der Papst – er ist nach Jesus mein größter Lehrer – hat sich das ja nicht selber ausgesucht. Es ist sein Golgotha. Und wo der Papst ist, ist die Kirche. Je mehr man sich vom Heiligen Geist führen lässt, desto mehr liebt man die Kirche. Sie ist meine Heimat geworden.“
In Lese- und Gesprächskreisen will er das weitergeben: „Weil ich sage: Ihr sollt nicht auf das hören, was die Leute über den Papst sagen, sondern auf das, was er selber sagt. Manche sind anfangs zwar skeptisch, aber später begeistert und offen, wenn sie sich mit den Texten des Papstes intensiv beschäftigen,“ freut er sich.
Und noch etwas liegt Dario Pizzano am Herzen: „Manchmal höre ich: Wir müssen uns da und dort an den Zeitgeist anpassen, an die Gegebenheiten, dann kann ich nur sagen, wenn ich von meinen Erfahrungen ausgehe: Jemand wie ich wäre dann nie zum Herrn gekommen. Es war doch die Wahrheit, die in der Botschaft der Kirche aufleuchtet, die Reinheit und Klarheit, die sie verkündet, die mich angesprochen haben. Wenn ich dann höre: Ach, lass doch, ist doch egal wegen der Scheidungen, der sexuellen Beziehungen, alles halb so schlimm… Das war doch meine Welt, wie hätte ich da sonst herausgefunden!“
Für ihn ist ganz klar, dass das Lehramt der Kirche die Wahrheit verkündet, eine Wahrheit, die wie Johannes Paul II. gesagt hat, „eine Wahrheit von oben und nicht von unten ist.“ Wenn Dario Pizzano in den Gefängnissen vor Mördern, Vergewaltigern und anderen Straftätern Klartext und darüber spricht, dass Vergebung frei macht, dann weinen die Männer. Und ein Mädchen in der 12. Klasse hat ihm einmal anvertraut: Bis jetzt habe sie den ganzen „Quatsch“ im Religionsunterricht nicht geglaubt, aber ihm – der die Welt der Jugendlichen, die Patchwork-Familien, Drogen, Sex, Partys erlebt hat – glaube sie jetzt.
Zum Schluss noch ein „Event”: seine Firmung im Jahr 2008: Als Dario mit seinem Firmpaten in der Reihe der Firmlinge steht, stellt er zu seinem Schrecken fest, dass alle einen Firmnamen gewählt hatten, den sie nun bei der Feier dem Bischof zuflüstern. Hat er bei der Vorbereitung nicht aufgepasst? Er ist schrecklich aufgeregt. Dario ist wohl kein christlicher Name. Es fällt ihm nichts ein. Immer weiter rückt er vor in der Reihe. Nun kommt er dran. Der Bischof strahlt ihn an: „Wie ist Ihr Firmname“. Dario atmet tief durch, schaut ihm tief in die Augen und sagt laut und deutlich: „Paulus!“