Er trägt den Spitznamen “Wunderdoktor": Seit 1998 ist Patrick Theillier im medizinischen Büro der Diözese in Lourdes tätig und empfängt alle, die meinen, durch die Fürbitte der Gottesmutter am Wallfahrtsort geheilt worden zu sein. Vor kurzem hat er ein Buch zum Thema Heilungen veröffentlicht. Das folgende Gespräch dreht sich um Heilungen, Wunder, Glaube und Vernunft und vor allem um Gottes Liebe...
Gibt es viele Heilungen?
Patrick Theillier: Rund 30 Fälle im Jahr 2000, etwa 50 heuer. Ein Beispiel? Heuer im August kommt eine Frau und erzählt mir, was ihr während einer Wallfahrt im Juli zugestoßen ist. Diese rund 50jährige Frau litt - zum großen Erstaunen der Ärzte, die das nicht erklären konnten - schon ab ihrem 30. Lebensjahr unter Myopathie. Sie konnte kaum gehen; über die niedrigste Stufe zu steigen, war so gut wie unmöglich. Sie war immer auf Hilfe angewiesen. Im Rahmen einer abendlichen Anbetung schlug der Priester den Kranken vor, ein Licht zum Altar zu bringen. “Ich spürte, daß ich auch gehen sollte, hatte ein Kribbeln in den Füßen, konnte aber einfach nicht," erzählte mir die Frau. “Als ich sah, wie der Priester die Monstranz wegnehmen wollte, dachte ich: Ach wie schade! Mit Hilfe meines Nachbarn stand ich auf und bewegte mich zum Altar vor. Dann bin ich die drei Stufen ohne Hilfe hinaufgestiegen, um meine Kerze auf den Altar zu stellen. Seither leide ich nicht mehr an der Krankheit; mein Mann behauptet, ich sei um 10 Zentimeter größer. Und ich spüre, daß ich mich spirituell ebenso entfaltet habe wie physisch." Dann schwieg die Frau kurz und fügte hinzu: “Diese geheimnisvolle Myopathie, wissen Sie was? Sie trat auf, als ich meine Tochter erwartet habe, 10 Jahre nach einer Abtreibung, die ich im Alter von 20 in England durchführen ließ." Diese Geschichte zeigt schön, daß es keinen Rauch ohne Feuer, kein Wunder ohne Bekehrung gibt.
Was werden Sie aus dieser Heilung machen?
Theillier: Nichts. Damit eine Heilung als wunderbar anerkannt wird, fordern die Kriterien von Lambertini, daß sie schlagartig, vollkommen und endgültig zu sein hat, daß die Krankheit schwer, organisch und eindeutig diagnostiziert ist. Das erklärt, warum bisher in 120 Jahren in Lourdes nur 66 Heilungen als Wunder anerkannt worden sind - und das bei rund 7.000 festgehaltenen Zeugnissen, von denen etwa 2.500 wirklich bemerkenswert sind. Weniger als ein Prozent also... Man versteht dann, warum psychosomatische Heilungen nie als Wunder anerkannt sein werden. Ein “Wunder" ist nichts als eine außergewöhnliche Heilung, eine, die die Medizin nicht zu erklären vermag. Wunder sind die Spitze des Eisbergs. Sie dienen dazu, uns auf die anderen Heilungen aufmerksam zu machen. Oft sind diese so vertraulich, daß sie nicht veröffentlicht werden können, das Leben ihrer “Nutznießer" aber von Grund auf verändern: Sie heilen das Herz.
Die sinkende Zahl der körperlichen Heilungen - bedeutet sie, daß Gott weniger wirkt? Daß der Glaube abnimmt?
Theillier: Vielleicht, schwer zu sagen ... Es gibt Zeiten, in denen die Kirche für die Feststellung von Wundern mehr oder weniger offen ist. In den letzten 30 Jahren wurden nur drei Heilungen als Wunder anerkannt. Tatsache ist auch, daß der Medienrummel abschreckt. Die meisten Geheilten trauen sich nicht, Zeugnis zu geben. Mit dem Etikett “In Lourdes geheilt" zu leben, ist keine Spaß! Außerdem hat sich die Art, wie die Kirche das Wunder sieht, verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente die wunderbare Heilung als Gottesbeweis. Heute sieht man darin eher den ungeschuldeten Erweis der Zärtlichkeit des in unserem Leben wirkenden Gottes.
Ist das auch Ihre persönliche Überzeugung?
Theillier: Ja. Unser ganzes Leben hindurch schenkt uns Gott Zeichen. Er nützt alles, um sich uns mitzuteilen. Wie ich es in meinem Buch schreibe: “Gott sehnt sich so nach unserer Liebe, daß Er sich durch Wunder bemerkbar zu machen versucht."
Wer sagt Ihnen, daß wunderbare Heilungen nicht irgendwelchen magischen Mächten zu verdanken sind?
Theillier: Es stimmt, daß magische und okkulte Kräfte heute öfter angerufen werden als je zuvor. Ebenso, daß es natürliche Fähigkeiten gibt, daß die menschliche Psyche mächtig ist und auf den Körper Einfluß zu nehmen vermag. Daher ist es nicht leicht, die Grenzen zu erkennen, die Grenzen zur Macht der Gedanken, der Suggestion, der Hypnose, des Magnetismus und all der anderen Kräfte der Heilung durch Zauberei, die heute grassieren. Deswegen ist eine medizinische und geistige Unterscheidung unbedingt erforderlich. Daher auch die Vorsicht der Kirche. Man muß jede Heilung in Beziehung setzen zum Sinn, der ihr gegeben wird: also die “außergewöhnliche" Tatsache, die eine Heilung ja darstellt, und zugleich deren Bedeutung für den Nutznießer sehen.
Was meinen Sie mit dem Wort Bedeutung?
Theillier: Im Leben der Betroffenen gibt es ein Vorher und ein Nachher. Vorigen Mai habe ich ein E-Mail von einer etwa 50jährigen Australierin bekommen: “Betrifft - mein Erlebnis", war zu lesen. Das Schreiben begann mit “Hello, Doktor!" Diese Frau erzählte mir ihre Geschichte. Ich fasse sie zusammen: “Ich bin nicht katholisch, bin vor 13 Jahren in Lourdes gewesen. Das kam so: Mein Mann ist Franzose und wir haben Frankreich besucht. Wir konnten nie Kinder bekommen, obwohl wir alles versucht hatten. Die Ärzte sagten: ,Da hilft nur künstliche Befruchtung." Das haben wir abgelehnt.
So sind wir halt nach Frankreich gefahren. Dort wollte ich - ich weiß nicht warum - nach Lourdes reisen. Ich bin zur Grotte gegangen, habe das Wasser getrunken, eine Kerze angezündet, für meinen sterbenskranken, an Krebs leidenden Bruder gebetet. Es war im Dezember und kalt, kaum jemand war da, und es herrschte ein Frieden. Wir sind heim nach Australien. Da entdeckte ich, daß ich schwanger war. Meine Familie hat gescherzt: “Der französische Wein!" Meine Ärzte haben nichts verstanden. Sie sagten: “Es ist eine Frage des Glaubens..." Ich weiß, daß es ein Geschenk des Himmels ist. Ich sehne mich danach, nach Lourdes zurückzukehren mit meinen beiden Kindern, um Dank zu sagen."
Wer war denn eigentlich ihre erste “Kundschaft"?
Theillier: Ein Krankenpfleger aus Angoulême, Jean-Pierre Bély. Er wurde von einer multiplen Sklerose anläßlich einer Rosenkranz-Wallfahrt 1987 geheilt. Ich hatte großes Glück, denn es war ein Paradefall. Sein Akt war jahrelang in der Schublade gelegen, weil man sich in der Sache nicht einigen konnte. Bischof Perrier hat ihn ausgegraben. Am 11. Februar 1999 wurde die Heilung als wunderbar anerkannt. Was mich am Zeugnis von Herrn Bély überzeugt hat, war, daß er sagte: “Ich wurde zunächst im Herzen und dann erst am Körper geheilt. In der Früh bei der Krankensalbung wurde mir eine solche Kraft inneren Friedens zuteil, daß ich seit 13 Jahren von ihr lebe. Erst am Nachmittag spürte ich ein starkes Kältegefühl und dann eine Woge sanfter Wärme, intensiv und alles erfassend... Ich hatte den Eindruck, daß sich diese Kraft in jeder meiner Zellen entfaltete. Noch bevor ich mich bewegen konnte, wußte ich, daß ich geheilt war."
Erst dann stellt er überrascht fest, daß er seine Arme bewegen konnte, Berührungen der Haut spürte und zu gehen vermochte. Die wunderbare Heilung ist vor allem eine Heilung des Herzens, die sich in manchen Fällen - wie bei Herrn Bély - auf das ganze körperliche und psychische Dasein des Menschen ausweitet. Denn Jesus will nicht nur alle Menschen heilen: Er will den ganzen Menschen heilen.
Setzt ein Wunder den Glauben voraus?
Theillier: Nein nicht beim Empfänger, denn oft wurden sehr weit vom Glauben und der Kirche entfernte Menschen geheilt. Die Heilung als solche anzuerkennen, ja, das setzt schon einen gewissen Glauben voraus. Blaise Pascal hat gesagt: “Im Wunder gibt es für jene, die glauben wollen, ausreichend viel Licht, und für jene, die nicht glauben wollen, ausreichend viel Dunkelheit." Wenn sie aus dem 5. Stock auf den Gehsteig fallen und ohne Brüche aufstehen - können Sie das als glücklichen Zufall, als “Schwein" oder als Wunder ansehen. Wo das Unmögliche stattfindet, spricht man von Wunder. Wer aber kann wirklich sagen, daß es sich um ein Wunder handelt? Nur jener, der in dessen Genuß kommt. Alles hängt letztlich von ihm ab und davon, was oder wen er als Urheber seines “Masels" ansieht. Und da überschreitet man notwendigerweise die Grenzen zur Religion. Das steckt schon in der Definition des Wunders. Das hat nichts mit dem Außergewöhnlichen, dem Magischen oder wissenschaftlich Definierten zu tun.
Das Wunder ist nicht das Unmögliche, das wahr wird, sondern die Anerkennung, daß ein bestimmtes Ereignis in Beziehung steht mit Gott, der des Menschen Heil will. Ob man es nun mag oder nicht: Die wahren Wunder gehören zum Bereich des Glaubens.
Wenn man also glauben muß, um zu sehen - kann man dann auch sehen, ohne zu glauben?
Theillier: Gott zwingt uns nie. Das Wunder ist ein Angebot an unsere Freiheit. Denken Sie an Alexis Carrel und Emile Zola an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Zwei Agnostiker erleben ein Wunder in Lourdes. Der eine bekehrt sich, der andere nicht. Niemand muß an die Wunder in Lourdes glauben. Zwei Gefahren allerdings sind zu vermeiden: der eingefleischte Rationalismus, der den Fehler sucht, weil dieser ja bei außergewöhnlichen Phänomenen vorliegen muß! Im gegebenen Moment stößt die raisonierende Vernunft auf das Geheimnis - und geht zur Tagesordnung über.
Im Gegensatz dazu kann man meinen, auf die Vernunft verzichten zu können und jede behauptete Heilung akzeptieren. Dann verfällt man der Schwärmerei, eine noch größere Gefahr, weil man unüberprüft überall auf der Suche nach Wunderbarem ist.
Warum werden manche geheilt, andere nicht?
Theillier: Ein Geheimnis. Eine Frage, die viele Geheilte, die ich kenne, verfolgt: “Warum ich? Ich habe es nicht mehr als andere verdient..." Es kann so etwas wie das Schuldgefühl des Geheilten geben. Sie alle wissen, daß diese Heilung nicht nur ihren Verdiensten oder ihrer Tugend zuzuschreiben ist, sondern eine Frucht des Glaubens und der Liebe, denen man in Lourdes begegnet. Es ist die Frucht des wunderbaren Geheimnisses der Gemeinschaft der Heiligen. Hier gibt es ein Volk von Pilgern, die ihre Heimat verlassen haben und in diesen schlichten Ort kamen, um zu beten; dann ist da das Kreuz all dieser Kranken; und dann all die Freiwilligen, die Hand anlegen und ihr Herz schenken. Es ist der leidende und wunderbare Leib, der Leib der Armen, der Leib Christi, Er selbst, der heilt. In Lourdes heilt Christus durch Maria.
Sie schreiben, das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert der Wunder sein. Wie meinen Sie das?
Theillier: Wir sind abgestumpft, haben alles gesehen, alle nur möglichen und denkbaren “Wunder". Was kann uns heute noch anrühren? Was uns wachsen lassen? Die Prüfungen. Ein Trauerfall, ein Unfall, eine Krankheit... Schauen sie die Amerikaner an, am Abend des 11. September im Gebet. Muß wirklich immer ein Ziegel vom Dach fallen, damit man nach Gott Ausschau hält! Dabei fällt uns der Himmel ohnedies dauernd auf den Kopf, indem er Zeichen der liebenden Gegenwart Gottes an unserer Seite setzt. Nur sind wir meistens abwesende Adressaten. Mehr denn je bleibt meiner Meinung nach Gott nichts anderes übrig, als Wunder - solche die wahres Staunen auslösen - zu wirken, um sich bei den Menschen bemerkbar zu machen.
Wie kann man denn diese Wunder sehen?
Theillier: Indem man Gott lobt! Die Danksagung öffnet das Herz für die Gegenwart des Heiligen Geistes in uns und in der Welt. Rufen Sie Ihn aus vollem Herzen an, ich garantiere, Sie werden viel erleben! Den Geist der Kindschaft wiederentdecken, nicht um jeden Preis alles zu erklären versuchen. Wenn Sie sich rundum versichern, nur auf Ihre eigenen Kräfte zählen, werden Sie nichts sehen. Daher sieht unsere Welt auch keine Wunder mehr. Das Wunder ist vor allem eine geistige Haltung, eine Öffnung des Herzens.
Welche ist die Heilung, die Sie am liebsten haben?
Theillier: Die letzte! Ja, alle sind so wunderbar, daß ich nur so antworten kann. Und diese letzte, ist das Zeugnis einer Frau im Anschluß an einen meiner Vorträge: “Ich bin Jüdin, Krankenschwester, habe wirklich nichts mit dem “Katholischen" am Hut - war bei der Freimaurerei. Als aber mein Sohn vor 10 Jahren nach einem Judo-Unfall querschnittgelähmt war bin ich nach Lourdes und habe Maria gesagt: “Wenn Du meinen Sohn heilst, fahre ich für drei Monate zu Mutter Teresa." Als ich einige Tage später heimkam, hat mir mein Sohn die Tür geöffnet. Am selben Tag bin ich zu Mutter Teresa aufgebrochen..."
Das Gespräch führte Luc Adrian. Das Interview ist ein Auszug aus “Famille Chrétienne", Nr. 1247