Am 7. Oktober 2001 sprach Papst Johannes Paul II. Nikolaus Groß selig, einen Mann, der in mehrfacher Weise durch sein Leben für uns Vorbild sein kann: Als einfacher Arbeiter und Gewerkschaftler, ein bescheidener Mann mit politischem Gewissen, der sich im öffentlichen Leben bewährte; als liebevoller Familienvater und Ehemann in schwersten Zeiten, der zeitlebens seinem Glauben treu blieb und ein Mann des Gebetes war.
Er wurde am 30. September 1898 in Niederwenigern im Ruhrgebiet geboren. Nach der achtklassigen Volksschule arbeitete er zuerst in einem Blechwalzwerk und dann als Bergmann unter Tag in einem Kohlenrevier. Dort erkannte er die sozialen Probleme und vielfachen Nöte der Arbeiter, was ihn bereits 1917 bewog, in den Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands einzutreten, um aktiv an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter mitzuwirken. In Abendkursen bildete er sich weiter, wurde 1920 Jugendsekretär und kam bald in die Zentrale der christlichen Gewerkschaften.
1923 heiratete er ein Mädchen aus seinem Heimatdorf, Elisabeth Koch, die ihm sieben Kinder gebar. Sie muß eine besondere, bei all ihrer Bescheidenheit starke Frau gewesen sein; ohne sie wäre das Leben Nikolaus Groß so nicht denkbar. In seinen Briefen bezeichnet er sie häufig liebevoll als “Mutter" oder “Herzensmutter"; sie war ihm in all den schweren Zeiten der 20er und 30er Jahre, des Krieges und zuletzt in der Zeit seiner fünfmonatigen Haft eine Stütze, die nicht wankte. Es brauchte wohl in diesen Zeiten großer materieller Not und politischer Wirrnisse viel Glauben und Mut, sieben Kinder aufzuziehen.
Wie tief er mit ihr und seinen Kindern verbunden war, zeigt sein Buch “Sieben um einen Tisch", dessen Manuskript er 1944 beendete. Er erweist sich als einfühlsamer Erzähler des Alltages seiner Großfamilie. “Sieben Kinder um einen Tisch! Mit keinem Mächtigen und Großen der Erde tausche ich meinen Platz", schrieb er. “Keiner, dem der Reichtum der Erde und die Ehre der Menschen zugefallen ist, kann mehr besitzen, als ich besitze, wenn ich die Sieben, froh und gesund an Leib und Seele, um mich versammelt habe." Die tiefe, vom Glauben getragene Liebe, die aus diesen Worten spricht, zieht sich durch das ganze Buch, das eine der schlichtesten, aber dadurch auch glaubwürdigsten Erziehungsschriften ist.
1927 trat er in die Redaktion der WAZ, der “Westdeutschen Arbeiterzeitung" (der Zeitung der Katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB) ein, deren Chefredakteur er nach wenigen Monaten wurde. Mit Einsatz arbeitete er an der Ausbildung und der staatsbürgerlichen Schulung der Arbeiter; er wollte den Arbeitern helfen, “herauszusteigen ... aus der Nacht des Nichtwissens, des Nichtverstehens", in einer klaren Absage an klassenkämpferische Vorstellungen sie gegen alle möglichen Versuchungen des politischen Radikalismus stärken. So wollte er mitwirken, einen “neuen Typus von Arbeiter zu schaffen, fähig, eine neue Gesellschaft zu tragen".
Gegen Ende der 20er Jahre spürte er, daß für Deutschland der Nationalsozialismus eine größere Gefahr war als kommunistische Umtriebe. Früh erkannte er die antichristlichen, unmenschlichen Grundlagen dieser Bewegung und den fundamentalen Widerspruch zu Glauben und Kirche.
In seinen Leitartikeln nahm er sich kein Blatt vor den Mund: “Die Nationalsozialisten wollen bewußt keine Partei, wollen nicht Teil sein - sondern sie wollen herrschen. Sie kämpfen gegen den Parteienstaat - und was sie aufrichten wollen, ist der Parteistaat". Hitler und seine Gefolgschaft wurden unverblümt so bezeichnet, wie sie sich letztlich herausstellten: als “Größenwahnsinnige, Volksbetrüger, Abenteurer, die das Volk ins Unglück stürzen werden."
Schon damals wurden Hitlers Propagandalügen aufgedeckt - kein Wunder, daß die WAZ bereits drei Wochen nach Hitlers Machtergreifung zeitweise mit Erscheinungsverbot belegt wurde. Groß und seine Mitarbeiter wurden von der Gestapo permanent überwacht, immer wieder verhört und mit Repressalien belegt. Am 19. November 1938 schließlich wurde die WAZ endgültig verboten. Damit hatte es eine angebliche Arbeiterpartei (die NSDAP) geschafft, “die Zeitung der katholischen Arbeiter auszuschalten".
In dieser Zeit kam Groß - wie andere Führungskräfte der KAB - fast zwangsläufig mit Widerstandsgruppen in Kontakt. Seit 1942 wußte er von Umsturzplänen gegen Hitler und wahrscheinlich auch von den Attentatsplänen vom 20. Juli 1944. An deren Vorbereitungen aber war er nicht beteiligt.
Seine Gedanken über eine “Nach-Hitler-Ära - auf welche Weise auch immer, durch Niederlage oder Beseitigung Hitlers", schrieb er in zwei kleinen Schriften stichwortartig nieder. Möglicherweise fielen sie in die Hände der Gestapo, was wesentlich zu seiner Verhaftung und Verurteilung geführt haben könnte.
Groß wußte um die Gefahren, die ihm drohten. Aber: “Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie sollen wir dann vor Gott und unserem Volk einmal bestehen?", war seine Antwort, wenn Freunde ihn auf mögliche Folgen seines Einsatzes für den Widerstand hinwiesen. Diese Antwort betont die religiösen Gründe seines Handelns. Für ihn waren Freiheit der Religionsausübung und Wiederherstellung von Recht und Menschenwürde Triebfedern für seine Teilnahme als Verbindungsmann und Vertrauensperson im deutschen Widerstand.
Am 12. August 1944 wurde er verhaftet und ins KZ Ravensbrück gebracht, wo man ihn folterte, und danach nach Berlin-Tegel überstellte. Dort war er Zellennachbar des Jesuitenpaters Alfred Delp, der ebenfalls von den Nazis ermordet wurde. Delp schrieb über die Situation im Gefängnis: “Wir beten hier zu Dritt: zwei Katholiken, ein Protestant". Der Gefängnisseelsorger Prälat Buchholz - Tegel war kein Gestapo-Gefängnis, sondern ein “gewöhnliches" mit Beamten, die dem Seelsorger keine Hindernisse in den Weg legten - schrieb: “So ist es uns möglich gewesen, diese Männer (die Verhafteten aus dem Widerstand) während der Wochen und Monate, die sie auf ihre Termine und ihre Hinrichtung warten mußten, regelmäßig zu besuchen und zu betreuen. Was wir da erlebt haben an männlicher und christlicher Haltung, an Opfer- und Sühnebereitschaft für andere, an fast frohem Sterben, ist wie ein hohes Lied echten Bekenner- und Märtyrergeistes aus dem Frühling der Kirche."
Von Groß sagte er: “Einer der Edelsten und Besten, dem ich in Tegel begegnete und dem ich in der Folge mehrere Male in der Woche regelmäßig begegnen konnte, war Nikolaus Groß. Wie oft habe ich ihn kniend vor seinem Zellenschemel getroffen, wenn ich unvermittelt seine Tür aufschloß. Es war geradezu ergreifend, mit welcher Ehrfurcht, Dankbarkeit und gläubiger Hingabe er die heilige Kommunion empfing, die ich ihm bei jedem Besuch reichen konnte."
Am 15. Jänner 1945 wurde Groß von dem berüchtigten Kirchen-hasser Roland Freisler zum Tod durch den Strang verurteilt und am 23. Jänner hingerichtet.
In seinem letzten, berührenden Brief vom 21. Jänner 1945 schrieb Groß an seine Familie: “Fürchtet nicht, daß angesichts des Todes großer Sturm und Unruhe in mir sei. Ich habe täglich immer wieder um die Kraft und Gnade gebeten, daß der Herr mich und Euch stark mache, alles geduldig und ergeben auf uns zu nehmen, was Er für uns bestimmt oder zugelassen. Und ich spüre, wie es durch das Gebet in mir still und friedlich geworden ist. ... Muß ich nicht Gottes weise und gnädige Fügung preisen und ihm Dank sagen für seine Güte und väterliche Obhut? Sieh, liebe Mutter, so menschlich schwer und schmerzlich mein frühes Scheiden auch sein mag - Gott hat mir damit gewiß eine große Gnade erwiesen. Darum weinet nicht und habt auch keine Trauer; betet für mich und danket Gott, der mich in Liebe gerufen und heimgeholt hat ... Gott vergelte euch, was Ihr mir Liebes und Gutes getan habt ..."
“Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 4,19): Nikolaus Groß, der Arbeiter und Familienvater mit politischem Verantwortungsbewußtsein, starb letztlich wegen seines Glaubens. Es ist uns allen viel zu wenig bewußt, daß Jesus genau auf diese Möglichkeit hinweist: Es ist möglich, daß wir Christen unter extremen Umständen für unseren Glauben auch mit unserem irdischen Leben einstehen müssen. Bei Lukas 21,11-19 können wir nachlesen: “Schreckliche Dinge werden geschehen ... Aber bevor das alles geschieht, wird man euch festnehmen und euch verfolgen. ... Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können ... manche von euch wird man töten. ... Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen".
Der Haß der Nazis gestattete Groß nicht einmal ein Begräbnis - sein Leichnam wurde verbrannt, die Asche ausgestreut - und doch gilt Jesu Wort. In Wahrheit konnte ihm und den unzähligen anderen Märtyrern der Unrechtssysteme des 20. Jahrhunderts kein Haar gekrümmt werden - sie haben durch ihren Opfertod das wahre Leben gewonnen.