Die blutigen Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit haben mich dazu bewegt, einen Gedanken wieder aufzunehmen, der mir in der Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse, die mein Leben, besonders in meinen Jugendjahren, gezeichnet haben, aus tiefstem Herzen kommt. Die unermeßlichen Leiden der Völker und der Einzelnen, darunter auch nicht wenige meiner Freunde und Bekannten, verursacht durch die totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus, haben stets meine Seele bedrängt und mich zum Gebet angeregt. Oftmals habe ich innegehalten, um über die Frage nachzudenken: Welcher Weg führt zur vollen Wiederherstellung der so grausam verletzten sittlichen und sozialen Ordnung?
Durch Nachdenken und in der persönlichen Beschäftigung mit der biblischen Offenbarung bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß sich die zerbrochene Ordnung nicht voll wiederherstellen läßt, außer indem man Gerechtigkeit und Vergebung miteinander verbindet. Die Stützpfeiler des wahren Friedens sind die Gerechtigkeit und jene besondere Form der Liebe, wie sie die Vergebung darstellt.
Aber wie kann man unter den aktuellen Umständen von Gerechtigkeit und zugleich von Vergebung als Quellen und Bedingungen des Friedens reden?
Meine Antwort lautet, man kann und man muß davon reden, ungeachtet der Schwierigkeiten, die solches Reden in sich birgt, auch deshalb, weil man gewöhnlich an Gerechtigkeit und Vergebung als alternative Begriffe denkt. Die Vergebung steht im Gegensatz zum Groll und zur Rache, nicht zur Gerechtigkeit. Der wahre Friede ist in Wirklichkeit ein “Werk der Gerechtigkeit" (Jes 32, 17). Der Friede ist, wie das II. Vatikanische Konzil erklärt hat, “die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muß" (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 78).
Seit über 15 Jahrhunderten erklingt in der katholischen Kirche die Lehre des Augustinus von Hippo, der uns daran erinnert, daß der Friede, der mit dem Zutun aller anzustreben ist, in der tranquillitas ordinis, in der Ruhe der Ordnung besteht (vgl. De civitate Dei, 19,13). Der wahre Friede ist daher Frucht der Gerechtigkeit, sittliche Tugend und rechtliche Garantie, die über die volle Achtung der Rechte und Pflichten und über die gerechte Aufteilung von Nutzen und Lasten wacht.
Da aber die menschliche Gerechtigkeit, die nun einmal den Grenzen und Egoismen von Personen und Gruppen ausgesetzt ist, immer zerbrechlich und unvollkommen ist, muß sie in der Vergebung, die die Wunden heilt und die tiefgehende Wiederherstellung der gestörten menschlichen Beziehungen bewirkt, praktiziert und gewissermaßen vervollständigt werden. Das gilt sowohl in den Spannungen, die Einzelpersonen betreffen, wie in jenen von übergeordneter und auch internationaler Tragweite.
Auszug aus der Botschaft des Papstes zum Weltfriedenstag 2002.