VISION 20004/2011
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Der Schuldkomplex fiel von mir ab

Artikel drucken Eine Mutter verliert ihr ungeborenes Kind (Valérie van Nes)

Ich war in der 11. Woche mit unserem kleinen Konstantin schwanger, als plötzlich am letzten Sonntag starke Blutungen einsetzen. Sofort rief ich eine liebe Freundin an, mit der Bitte, für das Ungeborene und für mich zu beten. Sie beruhigte mich und schlug mir vor, erst nach der Messe zum Krankenhaus zu fahren. Nach der Messe bat ich einen Priester, mir auch die Krankensalbung zu spenden und vorher die Beichte.

Als ich ins Krankenhaus kam, hatte ich also gleich drei Sakramente empfangen: Kommunion, Beichte und Krankensalbung.
Beim Ultraschall erkannte ich gleich: Das Baby war sehr klein für die elfte Woche – schließlich habe ich schon vier lebend geborene Kinder. Das Baby war seit der achten Woche nicht mehr gewachsen, also mindestens zwei, wahrscheinlich sogar drei Wochen lang tot im Mutterleib gelegen. Ich bat die Ärztin des katholischen Krankenhauses, den Krankenhausseelsorger zur rufen, denn ich wollte mit dem Priester besprechen, wie ich das Kind taufen könnte. Sie antwortete, es sei Sonntag, und sonntags hätte der Seelsorger frei und außerdem bliebe leider, mit Verlaub, nicht mehr viel zum Beerdigen.
Als ich mit der Untersuchung fertig war und darauf wartete, dass mir die Ärztin das Ultraschallbild meines verstorbenen Babys kopierte, wurde ein Bett vorbeigeschoben. Direkt vor mir blieb es mehrere Minuten lang stehen. Darin lag eine frisch entbundene Mutter, die ihr in Tücher gewickeltes Neugeborenes in den Händen hielt. Daneben stand der überglückliche Vater. Und die Hebamme gratulierte von Herzen zu diesem wunderschönen Baby.
In diesem Moment war ich glücklich, da ich wusste, dass eines Tages meine Freude noch um ein vielfaches größer sein wird, weil ich noch sehnsüchtiger darauf gewartet haben werde, mein Kind in seiner ganzen Schönheit betrachten zu dürfen.
Zuhause telefonierte ich mit „meinem“ Priester und sagte ihm, das Ganze müsse doch sicher als Strafe für eine meiner vielen Sünden geschehen sein. Der Priester fragte mich, ob ich die Geschichte vom Blindgeborenen kenne? Die Umstehenden fragen Jesus: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbart werden.“ (Joh 9,1ff)
Deshalb dürfe ich solche Schuldgedanken gar nicht hochkommen lassen, das wäre sehr gefährlich. Es war mir eine große Erleichterung, zu erfahren, dass es offensichtlich nicht meine Schuld war.
Der ganze Schuldkomplex fiel von mir ab wie ein schlecht gebundener Schal. Das ist eine besondere Gnade. Denn in weiteren Telefongesprächen mit betroffenen Frauen erfuhr ich, dass noch Jahre später immer wieder Schuldgefühle hochkommen. Mir wurde ansatzweise bewusst, wie sehr Frauen nach einer Abtreibung leiden müssen.
Noch am Abend dieses Sonntags durfte ich meinen Sohn gebären. Ich erkannte ein kleines Händchen und ein kleines Köpfchen, küsste dieses Köpfchen und dann fiel es in meinen Händen auseinander. Es zerfiel einfach und zurück blieb etwas, was in mir die Bibelstelle hochkommen ließ: „So entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.“ (Jes. 52,14) Es gab einfach nichts mehr, was man hätte beerdigen können. Und so rief ich den Pfarrer an und wir machten einen Termin aus – am Donnerstag würden wir unseren Konstantin in einer kleinen Hausmesse geistig auf den Altar legen und für ihn die Begierdetaufe erbitten.
Die Ärztin hatte mir gesagt, ich solle drei Tage später zur Nachuntersuchung kommen. Auf dem Weg zur entsprechenden Station habe ich mich total verlaufen. Vor lauter Schildern wusste ich nicht ein noch aus. Da sah ich ein Schild mit einer Kapelle. Dem folgte ich.
Über einige Umwege stand ich plötzlich vor dem Zimmer der Pastoralreferentin, zu der ich aber eigentlich gar nicht wollte, doch eine liebe Seele hatte mich dorthin geführt und ich war nur aus Höflichkeit mitgegangen. „Zufällig“ ging gerade die Tür auf und ich sah einen Mönch in diesem Zimmer sitzen.
Ich fragte den Pater, ob es vielleicht möglich wäre, dass man als Patient auch sonntags irgendwie einen Priester rufen lassen könnte. Er antwortete mir: „Ich wäre sofort gekommen, wenn man mich gerufen hätte. Ich war da. Aber keiner hat mich gerufen.“
Es stellte sich heraus, dass in jenem Krankenhaustrakt eine Pastoralreferentin waltet, die offensichtlich am Sonntag frei hat und anscheinend noch nie irgendeinen ihrer Schützlinge an den Priester weitervermittelt hat. Der Pater meinte, man sei eben der Meinung, dass in gewissen Situationen ein Gespräch von Frau zu Frau eher erwünscht sei.
Ich erwiderte, dass ich meiner Situation auf solch ein Gespräch von Frau zu Frau nicht den geringsten Wert gelegt hätte, ich hätte einen Priester gebraucht und sonst gar nichts. Der Pater bat mich, es ihm schriftlich zu geben – er würde dieses mein Anliegen nur allzu gerne weiterleiten.
Zuhause kam mir der Gedanke, dass man einen Gläubigen doch daran erkennen sollte, ob er andere zu Christus führt. Der Priester handelt „in persona Christi“. Einen wirklich Gläubigen, so wurde mir be?wusst, kann man also daran erkennen, ob er die Gläubigen zum Priester, zu den Sakramenten führt.
Und ich erkannte deutlicher als zuvor, welche Gefahr hauptamtliche Laienseelsorger für die Kirche bedeuten können, wenn sie die Gläubigen beispielsweise durch „Seelsorgegespräche“ von der Beichte oder durch selbstgestaltete Wortgottesdienste von der Eucharistiefeier abhalten, wenn sie sich als „erster Ansprechpartner vor Ort“ bezeichnen, um den Priester angeblich zu entlasten, indem sie Gläubige vom Priester fernhalten…
Drei Tage lang habe ich getrauert. Ich hatte solche Sehnsucht danach zu wissen, wie mein Kind aussah (eigentlich weiß ich nicht einmal, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist, aber ich habe vom ersten Moment an gefühlt, dass es ein Konstantin ist und ihn schon immer mit diesem Namen angesprochen). Jetzt freue ich mich darauf, einmal mein Kind zu sehen. Drei Tage habe ich wie Jona im Bauch des Fisches verbracht. Aber am vierten Tag konnte ich jubeln, weil unser kleiner Konstantin ohne Umwege gleich zum Thron Gottes gelangt ist – während der Rest der Familie noch ein beschwerliches Stück Weg zum Himmel vor sich hat.
Valérie van Nes

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