Die weitverbreitete Skepsis gegenüber der Wahrheit, das undifferenzierte Reden über „die Religionen“ verleiten sogar Christen dazu, die Einmaligkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus dem Blick zu verlieren.
Der Kern christlichen Glaubens ist die Mensch_werdung Got_tes. Schaut man gründlich und unbefangen in Geistesgeschichte und Gegenwart, stellt man fest, daß sich am Anspruch Jesu Christi, der menschgewordene Sohn Gottes zu sein, in einem ganz wörtlich zu nehmenden Sinn die Geister scheiden. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, auf die Zentralität dieses Geheimnisses hinzuweisen, eine Zentralität, die durch ihre vielfältige Bekämpfung nur noch unterstrichen wird. Die Überlegungen sollen auch eine Aufforderung sein, den katholischen Glauben tiefer zu durchdenken und sich ihn neu anzueignen.
In seinem Roman Der Herr der Welt läßt Robert Hugh Benson einen abgefallenen Priester den Kern des Glaubens der Katholiken so beschreiben: „(Sie) glauben, daß Gott Mensch wurde, daß Jesus Gott war und daß er das getan hat, um sie durch sein Sterben vor der Sünde zu retten. … Nun, was sie die Inkarnation nennen ist wirklich der Punkt. Alles andere fließt daraus hervor. Und sobald das jemand glaubt, muß ich bekennen, folgt der ganze Rest - bis hinunter zu Skapulieren und Weihwasser.“
Das ist der Kern: Der ewige Sohn Gottes, der Logos, nimmt die menschliche Natur vollständig an. Er wird einer von uns. Er verkündet eine neue Lehre und stiftet ein konkretes, sichtbares Volk mit einer sichtbaren Führung. Der Glaube ist also in konkrete Formen gegossen: hierarchische Kirche, amtliche Verkündigung, Sakramente, Werke der Nächstenliebe.
Darüber hinaus schafft sich der Glaube Formen, die oft nicht direkt geoffenbart, aber angemessen sind: die konkrete Gestalt der Liturgien des Westens und des Ostens, klerikale Kleidung, Zusammenfassung der Glaubenssätze im Katechismus, Auswendiglernen von Gebeten und Bibelstellen und alle sonstigen, kulturprägenden Details. Zerstört man die Formen, geht auch der Inhalt verloren.
Die Menschwerdung Gottes gibt weiters auch der Geschichtsschreibung plötzlich Bedeutsamkeit. Das Neue Testament hält fest, was es wert ist, festgehalten zu werden. Aus der Fülle der historischen Daten könnten wir niemals ableiten, was wirklich wichtig ist. Durch das Eingreifen Gottes in die Geschichte, ja Sein persönliches Teilnehmen an ihr, wird das Niederschreiben objektiv interessant. Der Kalender wird dadurch bedeutsam: Denn jetzt ist die Zeit nicht einfach eine unstrukturiert und sinnlos ablaufende Zeit, sondern kann und soll Heilszeit sein.
Die Feste sind keine frei erfundenen Phantasiefeste, die - wie jeder „feiernde“ Student weiß - unendlich öde sind, sondern haben einen konkreten, historisch faßbaren Inhalt: Die Erinnerung an Geburt, Tod und Auferstehung des Gottessohnes geben dem sich wiederholenden Jahr eine sinnvolle und objektive Struktur. Freilich, das alles ist Inhalt des Glaubens. Wir können das nicht „beweisen“.
Wir können allerdings feststellen, daß die Lehre Jesu, seine Wunder und seine Auferstehung historisch hervorragend bezeugt sind. Es handelt sich nicht um Phantasiegebilde. Daher ist der Glaube an die Menschwerdung Gottes nicht „beweisbar“, aber auch nicht widerlegbar.
Es gibt gegen ihn aber massive und vielfältige Widerstände. Diese kann man in drei Punkten grob zusammenfassen:
n Die hl. Schrift des Alten Testamentes kündigt zwar den Messias an. Aber daß Er direkt und wörtlich der menschgewordene Gottes Sohn sein würde, war offenbar nicht im Bewußtsein des Volkes Israel verbreitet. Einige Stellen der hebräischen Bibel sprechen von einer innergöttlichen Zeugung des Sohnes (etwa Ps 2,7; Ps 110,1.3), aber nicht von einer Menschwerdung. Das Selbstbekenntnis als Sohn Got_tes bleibt dem Messias angesichts des Verhörs durch den Hohenpriester vorbehalten (Mk 14,62). Wie dieser reagierte, wissen wir.
Das nachchristliche Judentum definiert sich dann auch über die heftige Ablehnung des Anspruches Jesu. Die maßgeblichen Stellen des Talmud wurden vor kurzem von dem Judaisten Peter Schäfer auf Deutsch publiziert (Jesus im Talmud).
Die Leugnung der Inkarnation blieb von daher im Altertum in verschiedenen Gruppen und Sekten Palästinas, Syriens und Arabiens lebendig, bis sie im Islam eine neue, diesmal auch militärische Ausprägung fand. Von seiner Grundaussage bekämpft der Islam die Idee der Mensch_werdung Gottes und greift dazu auch zum Krieg. Die gewaltsam in Moscheen umgewandelten Kirchen und der Ruf des Muezzins von den ehemaligen Kirchtürmen, dann „Minarette“ genannt, sollen dokumentieren, daß die Christen falsch liegen.
Die Kernaussage des Islam ist ja nicht der Monotheismus, sondern die Bestreitung der Gottessohnschaft Jesu Christi. Es ist darum unerfindlich, warum so viele Zeitgenossen, unter ihnen katholische Theologen, der Leugnung des Heilswerkes Gottes durch den Islam so viel Wertschätzung entgegenbringen.
n Wie stehen die anderen „Religionen“ zur Inkarnation? Sie nehmen sie nicht zur Kenntnis: Hinduismus und Buddhismus verbleiben auch 2000 Jahre nach der Menschwerdung Gottes in ihrem schwer faßbaren Gemisch aus irrationalem und unhistorischem Mythos, Magie und etwas praktischer Lebensklugheit versponnen und „Naturreligionen“ behalten ihre Götzen, denen sie fallweise auch Menschen opfern. Soll das „heilig“ sein?
n Zu erwähnen wären auch noch Bewegungen im Protestantismus. Viele Spielarten leugnen zwar die Menschwerdung nicht formell, unterminieren sie aber: Wo ausgerechnet die Verehrung der Mutter Jesu abgeschafft wird, von der er doch die menschliche Natur angenommen hat, ist die Inkarnation schwerer glaubhaft zu machen.
Die Gründerväter der protestantischen Richtungen be_kämpf_ten fünf von sieben Sakramenten, Reliquienverehrung, Weihwasser und Skapuliere, Medaillen, Gelübde, Wallfahrten und alles, was am Glauben konkret und leiblich ist. Das Konkrete und Leibhaftige des Sakraments erregt Anstoß (vgl. Joh 6, 60). Es ist aber gerade eine Folge der Menschwerdung! Übrig blieb im Protestantismus vielfach nur ein dürres intellektuelles Gerippe, ein „Christentum schlechthin“, praktisch eine reine Idee. Diese kann die wirkliche Menschwerdung Gottes nur mehr schwer vermitteln. Das sehen wir heute in Ländern protestantischer Prägung.
Vom Protestantismus verschieden und zeitlich später finden wir Feindschaft gegen das Dogma der Menschwerdung Gottes in der französischen Revolution und in der sogenannten „Aufklärung“, die in ihrem ideologischen Tiefpunkt, der Lessingschen Ringparabel, Glauben und Vernunft gleichermaßen beleidigt. Wir finden diese Ablehnung in den Wahnideen „moderner“ totalitärer Diktaturen wie in der mexikanischen Revolution von 1917, im Kommunismus und im Nationalsozialismus - alles ausdrücklich antichristliche Projekte.
Wir finden sie auch in weiten Strömungen „moderner“ Kunst, deren raffinierte und bösartige Absicht die Zerstörung des Menschenantlitzes ist. Hier „kündet“ uns die „Kunst“ die Botschaft eines dunklen und verworrenen Gegen-Logos. Der Haß Picassos auf die Frau läßt ihn das menschliche Gesicht richtiggehend fragmentieren. Damit ist auch das Antlitz Jesu und seiner Mutter getroffen. Dadurch soll wohl die Ankunft Gottes „im Fleisch“ undenkbar gemacht werden. Der Mensch ist nach der Darstellung vieler „moderner“ Künstler offensichtlich nur sezierbares „Material“ - oder Müll.
Schließlich und endlich ist es offenkundig, daß die Mentalität der Empfängnisverhütung gegen die Menschwerdung gerichtet ist. Der grauenhafte Umgang mit dem Leben vieler Menschen, die vielen Verstöße gegen das 5. Gebot und besonders der Greuel der Abtreibung sind Ausdruck des Hasses nicht nur gegen das Dogma der Menschwerdung, sondern praktisch gegen die Menschwerdung selbst. Da ist jemand, der sie, wie schon Herodes im Kindermord von Bethlehem, rückgängig machen will.
Und schließlich: Das Geheimnis der Menschwerdung wird seit etwa 100 Jahren sogar von katholischen Theologen geleugnet, indem eine „Christologie von unten“ oder ein „Randgruppen-Jesus“ erfunden wurde. Im amtlichen Bereich der Kirche drückte sich diese Tendenz in der Veränderung der Liturgie aus: Ausgerechnet die Kniebeuge zur Stelle im Credo „et incarnatus est“ wurde gestrichen. Auch das Schlußevangelium, der Johannesprolog, der die Menschwerdung klar bekennt, entfiel. Warum?
Offensichtlich gibt es einen Geist, der in der Bestreitung dieses zentralen Dogmas nicht lockerläßt und damit bis in die Kirche selbst vorgedrungen ist.
Was folgt aus allen diesen unerfreulichen Analysen? Zu_nächst werden wir uns bewußt machen müssen, daß die Inkarnation für die an sie Glaubenden als auch für die an ihr Anstoß Nehmenden von zentraler Bedeutung ist. Man kommt daran nicht vorbei. Wie Benson sagt, alles andere geht daraus hervor.
Sodann sollen wir uns dieser großen Gnade Gottes bewußt werden und für sie danken. Vergessen wir nicht, daß auch für die Gesellschaft alles davon abhängt, welches Bild vom Menschen sie in die Tat umsetzt: ob der Mensch jemand ist, dessen Natur Gott angenommen und erhoben hat oder ob er nur modellierbare Materie ist.
Schließlich sollen wir in unserem Leben dem Tun Gottes Raum geben, daß auch wir nach dem Vorbild des Menschgewordenen umgewandelt werden.