Christen leben ihren Glauben zunehmend im geistigen Gegen_wind. Wie geht man damit um? Wie bewahrt man den Glauben? Durch wachsende Vertrautheit mit Jesus Christus. Wege dazu im folgenden Beitrag.
Der große Theologe, Kardinal John Henry Newman, war auch ein großer Seher. 1877 schrieb er einem Freund, daß er in den vergangenen 50 Jahren von „trüben Ahnungen“ heimgesucht worden sei. Er schreibt: „All diese Zeit über dachte ich, es werde eine Periode weitverbreiteten Unglaubens kommen; und all diese Jahre hindurch sind tatsächlich die Wasser wie eine Sintflut gestiegen. Ich sehe nach meinem Leben die Zeit kommen, wo nur noch die Spitzen der Berge, Inseln gleich, in der Wasserwüste sichtbar sein werden“.
Er hat recht erhalten. Die Zahl der wahrhaft gläubigen und zeugnisgebenden Christen ist bei uns klein geworden. Viele Gläubige, die in ihrer Kindheit noch „heile Welt“ erlebt haben, können ihren Blick kaum mehr lösen von dem Ungeheuerlichen, das sich im ehemals christlichen Europa ereignet hat. Sie werden nicht selten ganz mutlos dabei.
Das, liebe Freunde, das darf nicht sein! Wir wissen doch aus der Heiligen Schrift, daß das alles so kommen muß (vgl Off 1,19). Also wissen wir uns bei allem, was in der Welt geschieht, in der allmächtigen Hand Got_tes. Wir folgen auch nicht dem Beispiel der Heiligen und der Zeugen Jesu, wenn wir uns durch solche Eindrücke und Ereignisse entmutigen lassen, wenn wir uns zur Anklage erheben, wo die Heiligen und Märtyrer sich doch immer für ihr verirrtes Volk mit ausgebreiteten Armen vor Gott hingestellt haben wie Abraham, Mose, wie die hl. Maria Bernarda - und allen voran unser Erlöser Jesus Christus.
Was sollen wir heute als Christen tun angesichts einer Welt, die sich zusehends gegen Christus und seine Kirche und ihre Treuen stellt? Es gibt darauf nur eine, wirklich nur eine gültige Antwort: Wir müssen uns noch viel enger, ja, radikaler unserem Herrn und König Jesus Christus anschließen als bisher. Wir müssen Seine belebende Nähe suchen, uns täglich ernähren mit Seinem Wort und Seinem Fleisch und Blut, damit wir wahrhafte Zeugen werden. Anders können wir den Glauben gewiß nicht bewahren und die kommenden harten Erprobungen nicht bestehen.
Christliche Religion ist ja in ihrem Kern nicht eine Lehre, nicht eine Tradition, nicht ein System, nicht eine Mystik, nicht einmal eine Spiritualität. Christliche Religion ist in ihrem Wesen die lebendige Person Jesus Christus: für uns gekreuzigt und für uns auferweckt und für uns von seinem Vater wunderbar verherrlicht. Christliche Religion ist lebendige Beziehung zu Jesus Christus, ist Gemeinschaft und Freundschaft mit Ihm: seinshafte, liebende, kämpfende, opfernde, mitleidende, ausharrende, geduldige, sühnende Gemeinschaft.
Nun: Wie lerne ich aber Jesus Christus wirklich kennen? Wie finde ich hinein in Sein göttliches Geheimnis? Indem ich mich betend in das Evangelium Seines Lebens vertiefe! Ja, betend vertiefe! Der Hindu Saddhu Sundar Sing, der - wie Paulus - durch eine Christusvision zum Glauben an den lebendigen Christus gefunden hatte, wurde nicht müde, seinen Leuten immer wieder zu sagen: „Willst du wissen, wer Christus ist, so lies die Bibel; willst du Ihn persönlich kennen lernen, so bete. Das Bibellesen genügt nicht, um Christus zu erkennen.“
Diese Wahrheit kann nicht ernst genug genommen und wiederholt werden. Die Vernachlässigung des Gebetes ist die Hauptursache für das Verblassen im Glauben und für fast alle Verirrungen im geistlichen und moralischen Leben der Menschen. Wer nicht mehr betet, ist wie einer, der kein Benzin in den Tank seines Autos gibt: sein Auto fährt nur noch den Berg abwärts.
Nun gibt es einen Königsweg zum Geheimnis der Liebe Got_tes, zum Geheimnis unseres Herrn. Die Heiligen sagen über_einstimmend: Willst du Christus kennenlernen, Seine Liebe, Sein Erbarmen, Seine Hingabe, Sein wunderbares göttliches Geheimnis mit dem Vater im Heiligen Geist, dann betrachte Ihn vornehmlich in Seinem Leiden. Schau dir Christus an in Seiner Passion. Nicht nur in Seinen körperlichen Schmerzen, sondern vor allem in Seiner unendlichen Demut, in Seinen seelischen und geistigen Verwundungen, die wir Ihm zugefügt haben. Durch Seine Wunden wirst du ins Herz Gottes schauen und durch Seine Wunden werden dir „große Geheimnisse offenbart“ (Hl. Teresa). Und durch Seine Wunden wirst du Heilung deiner Verletzungen erfahren (1 Petr 2,24).
Diesen Weg sind alle Heiligen und Zeugen der Kirche gegangen, angefangen bei den ersten Christen. Im Zentrum der Verkündigung durch die Apostel stand von Anfang an Sein Kreuz und Seine Auferstehung: Seine Passion.
Darum hat auch die Passion Christi, wie wir sie aus den vier Evangelien kennen, schon sehr früh ihre festgeprägte Form erhalten. Erst später wurden die Begebenheiten aus dem Leben des Herrn (Gleichnisse, Heilungen, Sprüche, Wunderberichte...) der Passion hinzugefügt. Alles in der christlichen Verkündigung und in den Evangelien ist hingeordnet und drängt hin auf Sein wunderbares Sterben und Seine herrliche Auferstehung.
Die ersten Zeilen in der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen lauten: „Unser erstes Bestreben sei, uns in das Leben Jesu zu versenken.“ Die hl. Teresa von Avila wird nicht müde, immer wieder zu betonen: „Wenn wir Ihn aber nicht anschauen und nie bedenken, was wir Ihm verdanken und welchen Tod Er für uns erlitten hat, dann weiß ich nicht, wie wir Ihn kennen lernen oder in Seinem Dienst Werke vollbringen könnten... Ich habe deutlich gesehen, daß wir durch diese Türe (die Menschheit Christi) eintreten müssen, wenn wir wollen, daß uns Seine erhabene Majestät große Geheimnisse offenbart.“
Im Tagebuch der hl. Faustyna ist an vielen Stellen davon die Rede. So hört sie einmal den Herrn zu sich sprechen: „Es gibt wenige Seelen, die Mein Leiden mit echtem Gefühl betrachten; die meisten Gnaden verleihe Ich den Seelen, die andächtig Mein Leiden betrachten.“
Von sich sagt Sr. Faustyna einmal: „Wenn ich Sein schmerzhaftes Leiden betrachte, verringern sich meine körperlichen Leiden.“ Dasselbe sagen einem immer wieder depressive Menschen, wenn sie sich in ihrem qualvollen Dunkel ihrem leidenden Bruder am Kreuz oder im Oelgarten zuwenden.
Es drängt mich seit langer Zeit, auf die Passion der seligen Anna Katharina Emmerich hinzuweisen, die Clemens Brentano aufgezeichnet hat. Die meisten Leser wissen wahrscheinlich, wer die im Jahre 2004 seliggesprochene westfälische Mystikerin Anna Katharina Emmerich ist, von der Clemens Brentano einmal schreibt: „Sie steht wie ein Kreuz am Weg.“
Sie darf aufgrund ihrer Visionen als eine der größten Mystikerinnen der katholischen Kirche angesehen werden. Anna Katharina schaute das gesamte öffentliche Leben Jesu, so auch seine Passion. Clemens Brentano, der große Dichter der Romantik, hat diese Visionen aufgeschrieben. Sie erschienen in dem Werk: Die Passion - Nach den Betrachtungen der Anna Katharina Emmerick. Dieses Buch hat unzählige Neuauflagen erfahren. Es ist „in seiner erschütternden Realistik und erhebenden Gläubigkeit eines der merkwürdigsten und zugleich schönsten und meist gelesenen Bücher der deutschen, ja der europäischen Literatur“, schrieb Erich Brautlach vor über 50 Jahren. Letzteres kann man heute leider nicht mehr sagen, weil viele Christen von diesem Buch kaum gehört haben.
Ich kann dieses Werk als Lektüre nicht genug empfehlen, vor allem auch für die anstehende 40tägige österliche Bußzeit. Nichts kann dieser heiligen Zeit ihre verlorene Tiefe so sicher zurückgeben wie eben ein ernstes sich Vertiefen in die Passion unseres Herrn.
Das Ziel der Passion ist, „die ganze Bedeutung des einmaligen, Welt und Zeiten umspannenden Ereignisses gegenständlich auf die Leser wirken zu lassen, ihn dadurch im Tiefsten zu erschüttern, von der Unwirklichkeit und Unwichtigkeit des irdischen Geschehens zu überzeugen und ihn in das Reich der Gnade und der ewigen Vollendung zu führen. Seit Thomas von Kempens Nachfolge Christi hat wohl kein Buch der Weltliteratur in solch vollendeter Weise wie Brentanos Passion diese Wirkung wieder erzielt“ (Brautlach).
Ziel solcher Lektüre und Betrachtung kann nur sein, daß wir uns nachher mit neuen Augen, mit neuem Verlangen den vier Evangelien mit ihren Passionen zuwenden, sie lesen und anders lesen als vorher, sie betrachten und tief in unser Leben und Glaubensbewußtsein aufnehmen, weil außer der Hl. Eucharistie uns nichts so tief ins Leben des Herrn hinein verwandelt wie die Kommunion mit seinem Leiden.
Solche Gemeinschaft in der Liebe mit dem lebendigen und herrlichen Christus wird uns bewahren vor dem Abfall im Glauben, der - so ist leider zu befürchten - in den nächsten Jahren noch viele erfassen wird. Clemens Brentano, der durch Got_tes Vorsehung auserwählt war, das, was Anna Katharina während sechs Jahren schaute, aufzuzeichnen, schreibt unzählige Male ganz ergriffen in sein Tagebuch: „Eine ganze Welt geht mir hier auf; jetzt ahne ich, was die Kirche ist.“
Der Autor ist Pfarrer em. in Bad Ragaz/Schweiz. Siehe auch: Anna Katharina Emmerich: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Die Passion kann auch als Einzelwerk bezogen werden. Christiana Verlag, CH-8260 Stein am Rhein.