VISION 20006/2009
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Wirklich zuhören lernen

Artikel drucken Wenn man sich in der Ehe alleingelassen fühlt

Man ist seit Jahren verheiratet - und eines Tages denkt man: Ich bin eigentlich recht einsam… Gespräche mit dem Partner sind schleppend. Hat man sich bei der Partnerwahl geirrt?

Wie erklären Sie, daß sich Ehepartner alleingelassen fühlen?
Christophe Fauré: Dieses Gefühl entsteht, wenn sich das Band löst, das einen an die Person, die man liebt, bindet. Das heißt noch nicht, daß man einander nicht mehr liebt; im Gegenteil, man leidet ja an der fehlenden Verbindung. Aber einer der beiden hat den Eindruck, an seinem Partner vorbeizuleben, ohne ihn erreichen zu können. Einsamkeit ist nun einmal eines unserer Wesensmerkmale. Die Liebe stellt so etwas wie eine Brücke dar, die den Raum, der uns vom anderen trennt, überspannt. Sie hebt diesen Raum auf, ohne die Distanz zwischen uns zu beseitigen. So kommt es zum harmonischen Austausch von Gefühlen und Gemütsregungen. Allerdings bedarf diese Brücke der Wartung und der Erhaltungsarbeit. Wo diese Aufmerksamkeit fehlt, droht die Brücke einzustürzen. Das verhindert dann, daß man zum Herzen des anderen vordringt. Und das erzeugt dieses Gefühl, alleingelassen zu sein.
Erleben das nicht beide Ehepartner immer gleichzeitig?
Fauré: Diese Gefühlslage wird nicht immer geteilt. Einer kann ganz blind dafür sein. So habe ich etwa ein junges Paar begleitet, wo der Vater ganz verrückt war nach seiner kleinen Tochter, die wieder sehr auf den Papa flog. Die Mutter fühlte sich alleingelassen. (…) Ihm war nichts bewußt.


Liegt das Problem in mangelnder Kommunikation?
Fauré: Das ist das übliche Argument. Meiner Meinung nach verwechselt man da Ursache und Wirkung. Der Verlust der Kommunikation, des sexuellen Verlangens, ja des Begehrens ganz allgemein, ist die Folge der verloren gegangenen tieferen, inneren Bindung. Das Paar hat die Gebrauchsanweisung für Kommunikation verloren. Was hat aber diese Kommunikationskanäle im Vorfeld unterbrochen? Nur festzustellen, daß das Band der Liebe beschädigt ist, reicht ja nicht. Es geht darum herauszufinden, warum und wie man es wiederherstellt. Zu lieben - das ist Arbeit. Ich mag die Definition der Liebe von Scott Peck sehr: „Sie ist der Wille, über sich selbst hinauszuwachsen mit dem Ziel, seine eigene geistige Entwicklung und die eines anderen voranzutreiben.“ Da zählt jedes Wort: Liebe, das hat etwas mit Entscheidung zu tun. „Über sich hinauswachsen“ bedeutet, seine derzeitigen Grenzen zu überschreiten. Die eigene geistige Entwicklung darf man nicht vernachlässigen…
Kann das Gefühl, alleingelassen zu sein, bei jedem Paar aufkommen?
Fauré: Dafür gibt es kein spezifisches Alter, aber einige Lebensabschnitte haben Identitätskrisen zur Folge und können eine größere Verletzlichkeit darstellen: Arbeitslosigkeit, eine Krankheit, ein Trauerfall, die Pensionierung oder wenn die Kinder das Nest verlassen. In solchen persönlichen Krisen vergißt man das Band mit dem anderen zu pflegen oder man merkt plötzlich, daß der andere sich als ohnmächtig erweist. Denn trotz der größten Liebe bleibt immer eine Distanz zwischen zwei Personen, das gehört zu deren Wesen. Der andere wird für mich immer eine Anfrage, ein Geheimnis bleiben. Das zu entdecken, kann sehr schmerzlich sein, weil man sich endgültig vom Traum, man werde ineinander verschmelzen, Abschied nehmen muß. Zuunrecht glauben manche, sie hätten sich bei der Wahl des Partners geirrt. Dabei handelt es sich um einen ganz normalen, ja gesunden Vorgang. Bezüglich der Beziehung nähren wir oft unbewußte und regressive Erwartungen: „Würde er mich lieben, müsste er meine Wünsche verstehen!“ Oder: „Wir haben die Zeit der sexuellen Leidenschaft hinter uns!“ Zu Beginn der Partnerschaft ist eine symbiotische Phase durchaus notwendig. (…) Aber aus dieser Symbiose wieder herauszufinden, ist auch wichtig. Ich werde wieder „ich“, der andere „der andere“.


Wenn man das einmal erkannt hat, wie findet man dann wieder zum anderen, wenn die Beziehung gelitten hat?
Fauré: Eine amerikanische Untersuchung hat versucht herauszufinden, welche Merkmale Personen aufwiesen, denen diese Wiederentdeckung gelungen war. War es der Wille? Die Diszipliniertheit? Die Begeisterung? Nein. Die einzige Voraussetzung: auf die eigenen Stärken zu setzen. Das ist alles! Nur ja nicht versuchen, ein anderer zu werden: Man suche nach den eigenen guten Eigenschaften, den eigenen Talenten.


Welche Voraussetzungen gibt es für wirkliches Zuhören?
Fauré: Hat man einander länger nicht zugehört, kann es dazu kommen, daß der eine wie der andere die eigenen Ängste und Bedürfnisse nur mehr in Form von Kritik und Anschuldigungen formuliert. Wirklich zuzuhören gestattet es, mit den Augen des anderen zu sehen. Man versucht zu verstehen, ohne zu urteilen. Das ermöglicht dem Ehepartner, Ängste, Hoffnungen, Fragen, Freuden, Bitten preiszugeben. Wer dem anderen zuhört, muß auch Raum für Stille lassen. (…) Im Falle einer Auseinandersetzung aus freien Stücken still zu sein, um dem anderen Raum zu geben (nicht ein bockiges, verschlossenes Schweigen), das ermöglicht dem Partner sich wieder zu beruhigen, statt ihn mit heftigen Angriffen niederzubügeln. Sich dafür zu entscheiden, wird so zu einer Geste der Liebe mitten im Konflikt. Zu lieben, das ist eine Frage der Entscheidung, erinnern Sie sich immer daran.

Dr. Fauré ist Psychiater und Psychotherapeut, sowie Autor von Ensemble mais seuls - Apprivoiser le sentiment de solitude dans le couple, das Interview ein Auszug aus „Famille Chrétienne“ Nr. 1652.

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