Weil die gegenwärtige Krise wesentlich geistige Wurzeln hat,wird sie nur durch eine geistige Neubesinnung bewältigt werden können. Das heißt: Abkehr vom Zeitgeist. Dazu eine Analyse:
Zeitgeist nennt man den Lebensstil, die Mode, die geistige Atmosphäre, die in einer Gesellschaft gerade herrscht. Definitionsgemäß ist der Zeitgeist absolut wandlungsfähig, er ist ein vergänglicher Hauch, der heute so und morgen so weht. Schon von daher ist klar, daß eine Bewegung wie das Christentum, die auf Fundamente gegründet ist, die nicht wandelbar sind, in Spannung steht zum Zeitgeist. Nicht nur heute, sondern zu allen Zeiten!
Christus hat den Anspruch erhoben, daß Himmel und Erde vergehen, Seine Worte aber nicht. Er hat die Verheißung gegeben, daß Sein Heiliger Geist in die ganze Wahrheit einführt, und daß dieser Geist weht, wo er will. Zeitgeist und Heiliger Geist sind geborene Feinde; besser gesagt: der Zeitgeist braucht immer die Erlösung durch den Heiligen Geist, damit er weiß, daß er nur ein “Lüftchen" ist, das im nächsten Augenblick schon wieder spurlos verweht ist.
Wo gibt es derzeit Konfrontationslinien zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist?
Wir müssen uns als Christen erstens bewußt werden, daß der liberale Zeitgeist der 68er schlechthin “out" ist. Das Christentum ist ja immer “konservativ", da es durch den Heiligen Geist Göttliches bewahren und weitergeben muß - das ist sein Wesen. Aus dieser Tendenz heraus konserviert die Kirche aber manchmal auch Zeitgeistiges. Und so sind heute gewisse Kreise in der Kirche die letzte Bastion dessen, was man den “Geist der 68er" nennen kann.
Ich gestehe: Als einem Nachgeborenen ist mir persönlich die Mentalität der 68er psychologisch nicht zugänglich, ihr Revolutionsgehabe bleibt mir unverständlich. Mag sein, daß man damals gegen das Beengende, Strukturelle, Althergebrachte, Heuchlerische in Gesellschaft und Kirche revoltieren mußte, aber das, was uns heute fehlt, ist sicher nicht Liberalität und Selbstbestimmung, sondern Bewahrung und Ordnung.
Im Bereich des christlichen Glaubens äußerte sich der Zeitgeist der 68er darin, daß man unbedingt “modern" sein wollte.
Ein erstaunlicher Minderwertigkeitskomplex hatte plötzlich die Theologie erfaßt, wie ihn Rudolf Bultmann schon 1941 treffend formuliert hat: “Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben."
Kann man nicht? Die Theologen der 68er Generation sind damals erstaunlicherweise nicht zu Atheisten geworden, was man eigentlich als Konsequenz ihres Rationalismus hätte erwarten müssen... Aber sie haben begonnen, mit einer fast paranoiden Manie die Kirche zu entmystifizieren und entspiritualisieren. Und es ist alles anders gekommen als man erwartete: Die Moderne ist untergegangen und mit einem süffisanten Lächeln hat die Göttin der Postmoderne ihren Thron auf dem Horizont des Säkularismus bestiegen: Die Postmodernen glauben heute problemlos an Elfen, Gnome, Lebensengel, an die Kraft der Bäume und die Macht der Yogis und alles Mögliche und Unmögliche Irrationale.
Von einigen Theologen, die intelligent genug waren, die Wende zu begreifen, schallt einem das Schlagwort von der “Respiritualisierung" entgegen. Aber es gibt eine offensichtlich traumatisierte Generation der 68er, gerade in den Kirchen, die die Zeichen der Zeit nicht sehen kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß das Christentum zugrunde geht, wenn es nicht demselben Begriff von “modern" huldigt wie vor 40 Jahren. Die wirklich “moderne" Jugend heute aber braucht keine Befreiung zu einem liberalistischen Modernismus, in dem jeder alles darf - das dürfen sie sowieso! -, sondern sie möchten das entdecken, was wirklich durch das Leben trägt und Ordnung, Sinn und Orientierung gibt.
Wenn es wo Fruchtbarkeit in der Kirche gibt, wenn es Jugendliche gibt, die substantiell aus dem Glauben leben, dann nicht dort, wo man ein liberales Süppchen der Beliebigkeit kocht (das Menü, mit dem der Säkularismus lockt, wird ja doch immer viel genußvoller duften!), sondern dort, wo man die Kost des unverkürzten Evangeliums kocht.
Ein weiteres Phänomen des heutigen Zeitgeistes ist der Egozentrismus: Der Heilige Geist, so glauben wir Christen, führt in die Anbetung Gottes und die Wertschätzung der anderen Menschen. Auch der Zeitgeist lehrt uns anbeten, aber das Objekt der Anbetung ist derzeit nichts anderes als das eigene Ich.
Nach der Analyse des erfolgreichen Trendforschers Matthias Horx sind wir unversehens in die Zeit des Supermegagiga-Egoismus geschlittert. Horx formuliert diesen Trend so: “Wo Wir war, soll Ich werden" und: “Aus wir wird Ich" . Das “Wir", also die Institution, die Familie, der Staat, die Religion, die gesellschaftliche Norm usw. - all das soll dem eigenen Ego unterworfen werden. Dieser Paradigmenwechsel trifft die Kirchen ebenso wie etwa Parteien und Gewerkschaften.
Im zeitgeistigen Werte-Set steht an oberster Stelle, daß jeder “sein eigener Herr" bzw. “seine eigene Frau" ist. Daraus resultiert logischerweise ein extremer “Eklektizismus": da ich nach dem Prinzip “Ich-meiner-mir-mich" lebe, wähle ich mir aus dem Gruppen-Wertesystem den Stil aus, der meinem “Ich-meiner-mir-mich" zusagt.
Daraus folgt wieder, daß jedes Ich zwar eine Menge von “partiellen Identifikationen" hat: Man akzeptiert das, was einem paßt von einer Religion, einer Partei, einem Wertesystem - ohne sich aber voll und ganz zu identifizieren.
Was nun die gesellschaftlichen Werte betrifft, so wird der Heilige Geist hier sicher mit dem Zeitgeist gnädig sein: wo ist schon eine Partei, eine Institution usw., die voll und ganz christlich ist?! Hier wird jeder Christ nach dem Prinzip vorgehen müssen: Wo ich “am meisten" von meinem Christentum wieder finde, dort bin ich zu Hause.
Freilich: Im Bereich des Glaubens fordert der Heilige Geist eine totale Übereinstimmung, Er will ja nicht in eine “halbe Wahrheit", sondern “in die ganze Wahrheit führen" (Joh. 16,3). Das heißt also: nicht halber Christ, sondern ganzer Christ. Und wo diese völlige Identifikation mit dem Geist Gottes gesucht wird, da lösen sich die Nebel des Zeitgeistes, der leider so oft ein Ungeist ist, ohnehin bald ins Nichts auf.
Das Beständige bleibt, denn “wer nur immer mit der Zeit geht, muß mit der Zeit gehen."
P. Dr. Karl Wallner OCist
Der Autor ist Rektor der Päpstlichen Hochschule in Heiligenkreuz, sein Beitrag erschien als “Europabrief Nr. 32" auf der Homepage:
www.europe4christ.net