Richard von Weizsäcker habe einmal erklärt, wir sollten von den Chinesen lernen, da diese für “Krise" und “Chance" das gleiche Schriftzeichen verwendeten. Dabei dürfte es sich um eine etwas verkürzte Version einer interessanten Tatsache handeln, denn andere Quellen besagen, das chinesische Schriftzeichen für Krise bestehe aus zwei Teilen, der eine Teil symbolisiere “Gefahr", der andere “Chance".
Wahrscheinlich ist Ihnen diese Geschichte in letzter Zeit in der einen oder anderen Form auch schon begegnet. Ich bin kein Sinologe und kann nicht beurteilen, welche Version nun stimmt, aber mir gefällt das Bild. Sprechen nicht auch wir zuweilen von den zwei Seiten ein und derselben Medaille? Auch für Christen ist es jedenfalls naheliegend, in der “Krisis" (Entscheidung) auch die “Katharsis" (Reinigung) zu erkennen, und damit die Chance für einen Neubeginn, den Anlaß zur Hoffnung.
“Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht"; “Übermut tut selten gut" ; “Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen"... Zahlreiche Worte der Volksweisheit fallen einem bei der Erwägung der Ereignisse der letzten Monate ein. Sie sind auch ein Hinweis darauf, daß die Menschen immer schon versuchten, aus schlechten Erfahrungen wenigstens Erkenntnis und Weisheit zu ziehen. Allerdings kann man sich derzeit auch des Eindrucks nicht erwehren, daß Erfahrung und Weisheit in der Menschheitsgeschichte nicht immer die Hauptrolle spiel(t)en: ein eindrucksvolles “déjà-vu"-Erlebnis wird uns offenbar nicht erspart bleiben...
Zahlreiche Zeitgenossen wollen es jetzt schon immer vorhergesehen haben, mindestens ebenso viele bieten auch gleich schlüssig scheinende Erklärungen für das, was “wirklich" passiert sei, an. Was davon zu halten ist, erkennt man an der Tatsache, daß es ebenso viele Expertenmeinungen gibt wie Experten... Dabei drängen sich ein paar Fragen auf: Was wurde dagegen getan? Was wird getan? Was soll ich jetzt tun?
Was ist passiert? Über eine längere Zeitspanne hinweg haben immer mehr Menschen daran geglaubt, daß ihre virtuelle Welt immer weiter wachsen werde und sie in der realen Welt von den virtuellen Renditen werden gut leben können. Weshalb sollte das System denn eines Tages nicht mehr funktionieren, da ja alle, die daran teilhaben, davon profitieren?
Die Erfahrung zeigt, daß immer einmal der Tag kommt, an dem einer der Lust nicht widerstehen kann, die unterste Karte eines Kartenhauses herauszuziehen, um zu sehen, was dann passiert. Wir erleben es jetzt: der Einsturz des virtuellen Hauses ist real und keiner glaubt mehr, daß das Haus halten wird. Die Krise, die zu einem sehr großen Teil natürlich auch herbeigeredet und -geschrieben wurde und wird, ist daher auch eine Krise des Glaubens und des Vertrauens: glaubt niemand mehr an den Wert des Geldes, dann hat es auch keinen mehr. So unwahrscheinlich dies vor wenigen Monaten noch erschien, heute ist es Realität: der Glaube an die Macht des Geldes ist geschmolzen und das Vertrauen in das Potential der Geschäftspartner erschüttert.
Zweifellos wäre es klüger gewesen, von Zeit zu Zeit die eine oder andere mehr oder weniger kleine Rezession als Korrektiv zuzulassen, anstatt sie sofort bei Auftreten der ersten Anzeichen durch dirigistische Maßnahmen zu knebeln. Dadurch wurde immer stärkerer Druck aufgestaut, der sich nun mit zigfacher Vehemenz entlädt. Dies zu beklagen, ist es zu spät. Gewinnen werden jene, die sich die Frage stellen: “Was ist jetzt zu tun?" und danach handeln!
Es erscheint mir wichtig, nicht nach Schuldigen zu suchen, nicht anzuklagen. Hand aufs Herz: wer würde nicht zugreifen, wenn ihm plausibel gemacht wird, daß er sein Kapital mit wenig Aufwand und wenig Risiko in kurzer Zeit vermehren kann? Spekulation und Risiko sind nicht von Natur aus böse. Eine Horrorvision wäre eine vollkommen durchregulierte Gesellschaft, in der es keinen Platz mehr für den Irrtum gäbe.
Es ist auch nicht ein ganzer Berufsstand anzuklagen, von dessen zum Teil auch nützlicher Tätigkeit sehr viele Menschen profitieren konnten. Einige haben den Bogen überspannt, sehr viele haben nun unter den Folgen zu leiden, das ist eine Tatsache. Sich nun aber mit der Forderung nach Sanktionen aufzuhalten hieße Zeit und Energie zu vergeuden, die für Wege aus der Krise dringender benötigt werden.
Aber woher nun Hoffnung nehmen?
Ich gestehe, daß ich angesichts der zahlreichen Kassandrarufe, denen wir seit vielen Jahren in allen erdenklichen Formen ausgesetzt sind, von der Überbevölkerung der Erde über den sauren Regen bis zur Erderwärmung, den Überblick und damit auch irgendwie das Interesse an dieser Art von Information verloren habe. Das mag politisch unkorrekt sein, aber es ist einfach so: Ich fühle mich schlicht und einfach überfordert und sehe auch keine Möglichkeit, wie ich sinnvoll all die Expertenweisheit in meinen gewöhnlichen Tagesablauf einfließen lassen könnte.
Nehmen wir die Prognosen so mancher “Experten" von vor 30 Jahren her, dann dürfte es die Erde eigentlich gar nicht mehr geben. Ich erlebe jeden Tag, an dem die Sonne wieder aufgeht, als ein Wunder, ein Geschenk Gottes, das Leben mit all seinen unendlichen Möglichkeiten auf dieser Erde als unbegreiflich. Daher habe ich auch der Krise nichts als Hoffnung entgegenzusetzen.
Diese Krise erfüllt alle Kriterien der “self-fulfilling prophecy". Die Wirtschaft werde schrumpfen, der Konsum zurückgehen, heißt es. Also verschiebt man sowohl auf Unternehmensebene als auch privat geplante Investitionen und bestätigt dadurch die Prognosen. Auf weniger Nachfrage wird mit weniger Produktion reagiert, weniger Produktion bedarf weniger Arbeitskräfte, weniger produktive Menschen verfügen über weniger Bargeld, geben daher weniger aus, etc. - die Teufelszentrifuge dreht sich immer schneller und schneller, wo führt das hin?
Drehen wir den Spieß doch einfach um. Schauen wir, was passiert, wenn wir an die Zukunft glauben. Wenn wir darauf vertrauen, daß auch diese Krise schon den Keim der Lösung in sich birgt, daß die Menschen um uns aus dieser Krise Lehren ziehen werden. Tun wir jetzt, wozu wir sonst glauben, keine Zeit zu haben. Beteiligen wir uns an der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, indem wir die Freiheit nutzen, die rechte Wahl zwischen Gefahren und Chancen zu treffen.
Martin Ploderer