Es sei leichter den Ehepartner loszuwerden als einen Mieter, und Frauen seien als Verkäuferinnen angesehener, als wenn sie Kinder großziehen: Europa demontiert die Familie. Ein Weckruf zu später Stunde.
Es ist diskriminierend, die Ehe als eine von vielen Lebensgemeinschaften zu bezeichnen. Denn sie steht allen von Menschen erdachten und gemachten Formen des Zusammenlebens gegenüber, weil sie eine Stiftung Gottes ist.
Dennoch meinen Politiker unterschiedlicher Couleur quer durch Europa, Familie sei überall da, wo Kinder sind, und die Politik habe anzuerkennen, daß es faktisch verschiedene Modelle des Zusammenlebens gebe. Statt sich mit einer Beobachtung der Phänomene zu begnügen, müssen wir nach dem Wesen der Dinge fragen. Wo die Bibel einsetzt, vom Menschen zu sprechen, thematisiert sie bereits die Verwiesenheit von Mann und Frau aufeinander und ihre gemeinsame, von Gott geschenkte und von Ihm gesegnete Verwiesenheit auf das Kind: “Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (Gen 1,27f).
Gottes erster Segen und sein erstes Wort an seinen neuen Gesprächspartner, an sein “Abbild", lautet: “Seid fruchtbar, und vermehrt euch...".
Kardinal Joseph Ratzinger schrieb als Erzbischof von München-Freising deshalb: “Die Ehe ist die vom Schöpfer gewollte und von der Schöpfung dem Menschen vorgezeichnete Gemeinschaft von Mann und Frau." Welche andere Gemeinschaft dürfte das von sich behaupten? Die Ehe ist keine Erfindung des menschlichen Geistes, sondern des göttlichen. Damit ist sie der Beliebigkeit unseres Handelns und Gestaltens entzogen.
Nach dem Zeugnis der Bibel sollten sich Mann und Frau als Abbild des Schöpfergottes erkennen und ihren Ehebund in Analogie zum Bund Gottes mit seinem Volk, Christi mit seiner Kirche begreifen. Diese Parallele inkludiert logischerweise die Unauflöslichkeit der Ehe und die Bereitschaft zur Fruchtbarkeit, denn Gottes Bund ist unauflöslich und bringt reiche Frucht.
Ein Blick auf die gesellschaftliche und rechtliche Wirklichkeit der europäischen Länder zeigt das Gegenteil: In vielen Staaten Europas ist es juristisch leichter, einen Ehepartner loszuwerden als einen Untermieter. Selbstverständlich gab es zu allen Zeiten das Drama des Scheiterns einer Ehe. Neu und in einem auffälligen Gegensatz zum biblischen Befund, zur kirchlichen Lehre und zur monogamen Tradition des Abendlands ist, daß heute in nahezu ganz Europa Ehescheidung und auch mehrfache Scheidung gesellschaftlich allgemein akzeptiert und rechtlich großzügig geregelt sind. Für die Betroffenen hat das Scheitern ihres Lebensentwurfes eine individuelle schmerzliche, oft von Tragik begleitete Dimension. Darüberhinaus ist aber zu fragen: Wohin treibt eine Gesellschaft, wenn eheliche Treue nicht mehr als hoher Wert und die Unauflöslichkeit der Ehe nicht mehr als das zu erstrebende Ideal gesehen werden?
Die quer durch alle gesellschaftlichen Schichten gehende Ausbreitung des Massenphänomens Scheidung und ihre mediale Banalisierung haben eine Erosion der familiären Bindungen zur Folge. 1931 konnte der Vater des modernen Europa-Gedankens, Richard Coudenhove-Kalergi, die Identität Europas noch so beschreiben: “Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft... gegründet auf Monogamie und Familie, auf Privateigentum, auf gleiche Sitten und Feste, auf gleiche Religion, gleiche Tradition, gleiche Ehr- und Moralbegriffe, gleiche Vorurteile." Seitdem hat sich das Eheverständnis der Politik, des Rechts und der Gesellschaft von jenem der Kirche weit entfernt und entfremdet. Das Eheversprechen gilt als Bemühungszusage. Personalrochaden sind nicht nur in Hollywood selbstverständlich geworden.
1960 gaben sich in Deutschland mehr als eine Viertelmillion Paare das Jawort, während sich 22.195 Paare scheiden ließen: Die Scheidungsrate betrug 8,8%. Zwei Jahrzehnte später war die Scheidungsrate auf 26,6% emporgeschnellt; weitere zwei Jahrzehnte später auf 46,4%. Im Jahr 2001 überschritt sie die 50%-Marke. In Österreich kamen 2003 auf 100 Eheschließungen 43 Scheidungen. Noch höher liegt die Rate in Rußland, Schweden und Großbritannien.
Dadurch, daß jeder in seinem Umfeld wie über mediale Vermittlung eine Vielzahl gescheiterter Beziehungen, Lebensgemeinschaften und Ehen erlebt, gilt lebenslange Ehe mehr und mehr als Illusion. Weil wir aber aufgeklärt sein wollen, wagen wir nicht das scheinbar Unmögliche, sondern lediglich “Ehe auf Probe", “Lebensabschnitts-Partnerschaften", Wochenend-Partnerschaften ohne rechtliche oder moralische Verbindlichkeit oder Ehen unter dem Vorbehalt möglicher Trennung. 14,5 Millionen Deutsche leben allein; 37% der Haushalte in Deutschland sind Single-, 33,8% Zweipersonenhaushalte. Die Familien, also Paare mit mindestens einem Kind, stellen weniger als 30% der Haushalte in Deutschland. Die Folge ist eine stark individualisierte Gesellschaft - mit entsprechenden Bedürfnissen, Interessen, Ansprüchen und Zielen.
Trotz der Almosen, die den Familien im Umverteilungsstaat zufließen, belohnen Staat und Gesellschaft tendentiell weiterhin Individualismus und Kinderlosigkeit; sie behindern und bestrafen weiterhin Familienbildung und Kinderreichtum.
Der deutsche Caritas-Präsident Hellmut Puschmann meinte: “Es gibt viele Methoden, sich dauerhaft zu ruinieren. Im Deutschland von heute ist eine der erfolgversprechenden die Gründung einer mehrköpfigen Familie."
Das hat nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch fatale Folgen: Solange die Eltern sich selbst um die Erziehung, Versorgung und Ausbildung ihrer Kinder kümmern, ist dies ihr Privatvergnügen. Erst wenn sie diese Arbeit delegieren, wird es für die öffentliche Hand teuer: Kinderkrippen, Kindergärten, Ganztagsschulen mit Nachmittagsbetreuung.
Ebenso geht es der viel verspotteten sogenannten Nur-Hausfrau. Sie wird nicht nur vom Staat behandelt, als täte sie nichts, sondern sie ist auch permanent der gesellschaftlichen Zurücksetzung ausgeliefert. Die Arbeit im fremden Haushalt (als Köchin, Putzfrau etc) wird als echte Arbeit gewertet, die im eigenen Haushalt als Privatvergnügen. Die Erziehung und Betreuung fremder Kinder (als Tagesmutter, Lehrerin, Kindergärtnerin etc.) wird als echte Arbeit gewertet, die der eigenen als Privatvergnügen. Wie sagte doch bereits vor 150 Jahren der Nationalökonom Friedrich List: “In dieser ökonomischen Betrachtung ist, wer Schweine erzieht, ein produktives, und wer Kinder erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft."
Bei diesen Wertigkeiten ist es nicht nur vom gesellschaftlichen Prestige, sondern auch von den ökonomischen Rahmenbedingungen her naheliegend, entweder ganz auf Kinder zu verzichten oder Kinder und Haushalt rasch und umfassend an andere - möglichst billigere - Arbeitskräfte zu delegieren, um selbst einer außerfamiliären Erwerbsarbeit nachzugehen. Genau diesen Weg ist fast ganz Europa seit Jahrzehnten gegangen; deshalb liegen die Geburtenraten zwischen Portugal und Rußland deutlich unter der Reproduktionsrate.
Die Verweigerung jenes Auftrags, den der Schöpfer seinem Abbild laut Buch Genesis zurief: “Seid fruchtbar, und vermehrt euch...", hat für Europa heute unabsehbare Folgen. Seit Jahrzehnten werden zu wenige Kinder gezeugt, weil zu viele verhütet werden; werden zu wenige geboren, weil zu viele abgetrieben werden.
Was über die Jahrtausende - mit oder ohne Berufung auf die Heilige Schrift - als Segen betrachtet wurde, machten die Europäer zum verhütbaren Risiko: Kinder. Auf die Frage, warum dies so ist, gab Papst Benedikt XVI. beim Weihnachtsempfang 2006 Antwort: Angesichts der Familien, denen er in Valencia begegnete, sei ihm “die Frage nach Europa in die Seele gedrungen, das anscheinend kaum noch Kinder will. Für den Außenstehenden scheint es müde zu sein, ja, sich selbst von der Geschichte verabschieden zu wollen."
Der Papst sprach eine Erkenntnis aus, der sich die Politik weitgehend verweigert: “Das Kind braucht Zuwendung." Doch Zuwendung bedeutet Zeitaufwand: “Aber gerade dieser wesentliche Rohstoff des Lebens, die Zeit, scheint immer knapper zu werden. Die Zeit, die wir haben, reicht kaum aus für das eigene Leben; wie sollten wir sie abtreten, sie jemand anderem geben?"
Wo Eltern ihre Kinder zwar mit Geld, Modeartikeln und Geschenken überhäufen, ihnen aber Zeit und Zärtlichkeit schuldig bleiben, kapitulieren die Lehrer vor schwer erziehbaren Wohlstandsverwahrlosten. Doch die Desorientierung der Kinder ist nur die Folge der Orientierungslosigkeit der Erwachsenenwelt, wie der Papst treffend analysiert: “Der Mensch von heute ist der Zukunft unsicher." Dies sei der tiefste Grund dafür, “warum das Wagnis des Kindes vielen kaum noch vertretbar scheint".
Eine solche Gesellschaft ist im wahrsten Sinn des Wortes müde, des Lebens müde, lebensmüde. Und sie ist ganz sicher nicht durch irgendeinen politischen Taschenspielertrick zu retten. Allenfalls durch das Vorbild von Familien, die offensichtlich gelingen, und von denen der Papst sagte, daß sich in ihnen “die Generationen die Hände geben und Zukunft Gegenwart ist".