Wer auf der Suche nach einer umfassenden Erklärung der Krise von Moral und Moraltheologie in der Kirche ist, wird in dem tiefschürfenden Werk des Ratzinger-Schülers und irischen Steyler Missionars Vincent B. Twomey auf reiche Art und Weise fündig. Er beleuchtet die geistigen Hintergründe der Krise und bietet, indem er “Altes und Neues" hervorholt, Anregungen zu deren Überwindung.
Der Grundgedanke des Buches ist, daß erst die Ablehnung der Enzyklika “Humanae Vitae" die tief in der Geistesgeschichte steckenden Ursachen der moralischen Krise in vollem Umfang ans Tageslicht treten ließ. Denn nur in einem naturrechtlichen und katholisch-offenbarungstheologischen Verständnis vom Menschen läßt sich dessen Würde und die seiner Sexualität begründen. Dieses Verständnis wird aber seit Jahrhunderten massiv bekämpft.
Twomey behandelt im ersten Teil die kulturellen Umwälzungen der 1960er Jahre als Anlaß und Auslöser der Verwirrung. Diese Revolutionen wurden von einer modesüchtigen Theologie in den Binnenraum der Kirche übernommen, wo sie zur Ablehnung der überzeitlichen, naturrechtlichen und biblischen Moral geführt haben.
Ein Einfallstor der Verwirrung ist dann die massive Abwertung der Sexualität durch die neuen Ideologien, besonders seit 1968. Denn der göttliche Bauplan im Menschen, der wesentlich durch das Mann- bzw. Frausein geprägt ist, mußte einer Ablehnung des Weiblichen in Existentialismus und Feminismus weichen: “Der Haß auf das Fleisch und insbesondere den weiblichen Körper mit seiner Gebärfähigkeit beherrscht beispielsweise das Denken Simone de Beauvoirs... Doch die heftigsten Angriffe waren gegen die Fruchtbarkeit gerichtet. Empfängnisverhütung ist ... eine Art chemischer Kriegsführung gegen Venus. Schwangerschaft wird zunehmend als eine Krankheit betrachtet, die um jeden Preis vermieden werden muß."
Durch den marxistischen Einfluß im Westen werden die politischen Auswirkungen einer irregeleiteten Sexualität klar: Nur eine Gesellschaft mit stabilen privaten Beziehungen und deren Autonomie (Ehe, Familie) kann den totalen Staat verhindern. Twomey betont in diesem Zusammenhang mit vollem Recht, “daß die Kirche ... die ursprünglichen und unveräußerlichen Rechte der Familie gegen die Ansprüche des modernen Staats verteidigt, der diese Rechte aufzuheben versucht."
Der Autor legt dar, daß sich an “modernen" Ideologien orientierte Theologen grundsätzlich nicht auf das II. Vaticanum berufen können: “In Anlehnung an das Erste Vatikanische Konzil lehrt das Zweite Vaticanum in Lumen gentium zuallererst, daß die für das Gewissen aller Katholiken verbindliche kirchliche Autorität sich sowohl auf den Glauben als auch auf die Moral erstreckt. ... Zwischen der gottgegebenen Lehrautorität der Kirche und dem Gewissen des gläubigen Katholiken kann kein Konflikt bestehen."
Nach weiteren tiefgründigen Analysen, z. B. über den verheerenden Einfluß der Lehre Luthers auf die christliche Moral, weist er der Moraltheologie eine erhabene Sendung zu: Sie müsse vom Menschen viel fordern, um dessen Würde zu zeigen und zu befestigen. Dazu gehört eben auch die radikale Ablehnung des Schlechten, Minderwertigen und Bösen: “Jede Kompromißtheorie untergräbt die menschliche Würde und begünstigt ein Leben in stiller Verzweiflung."
Indem Humanae Vitae faule Kompromisse ausschließt, steht sie in der Tradition einer hochgemuten und anspruchsvollen Lehre vom Menschen, die - bei allen Schwierigkeiten - dessen Würde neu erstrahlen läßt.
Der zweite Teil des Buches kann als Anhang verstanden werden, der das Hauptthema umkreist und wertvolle Überlegungen zur menschlichen Sexualität und deren Herabwürdigung in der “Moderne", zur Liebe und zur Keuschheit, sowie über eine “theologische Vision von Humanae Vitae" anstellt.
Der Epilog bietet eine überraschende Erhellung der wahren Ursache für die Ablehnung der kirchlichen Moral. Es ist dies die Todsünde der akedia, der Trägheit. Die Töchter dieser Geisteshaltung sind torpor (Erstarrung) und rancor (nagender Groll): “Genau das prägt heute unsere kirchliche Realität. Die Menschen sind an dem, was die Kirche ihnen geben soll, nicht länger interessiert: an der Gnade der Gotteskindschaft und der moralischen und geistlichen Führung, die uns in die Lage versetzt, unserer Berufung gemäß zu leben. Deshalb halten sie alles, was die Kirche tut, für falsch und sind ständig von ihr enttäuscht - was auch und gerade auf jene zutrifft, die nicht mit ihren Lehren übereinstimmen."
Das Buch ist eine Fundgrube vieler schöner, alter und überzeitlicher Einsichten. Es wertet das einschlägige Schrifttum der Klassiker des 20. Jahrhunderts aus: An Josef Pieper, C. S. Lewis und Dietrich von Hildebrand kommt man einfach nicht vorbei.
Das Buch gehört dringend in die Hand von Bischöfen, Priestern und Theologen, aber auch aller, die in der ärztlichen und therapeutischen Praxis mit den Folgen einer falschen Auffassung vom Menschen und seiner Sexualität konfrontiert sind. Für diese Orientierungshilfe gebührt dem Autor und seinem prominenten Lehrer größter Dank.
Wolfram Schrems
Der Papst, die Pille und die Krise der Moral. Von Vincent Twomey, St. Ulrich Verlag, Augsburg 2008, 208 Seiten, 20,50 Euro